Wie geht Deradikalisierung? Experten arbeiten mit jungen Salafisten

Sie arbeiten mit Syrien-Rückkehrern und radikalen Salafisten – auch hinter Gefängnismauern. Die Berater des Gewaltpräventionsnetzwerks VPN haben muslimische Wurzeln. Ihr Ziel: Straftaten verhindern. Von Ira Schaible

Manchmal rufen Eltern nachts an, weil sie die Ausreise ihres Sohnes nach Syrien befürchten. «Im Notfall gehen wir sofort raus», sagt Thomas Mücke, Geschäftsführer des Präventionsnetzwerks VPN, über die Arbeit mit salafistischen Extremisten. Das gilt auch, wenn die jungen Leute, meist Männer, selbst anrufen. «Sie sollen sich ja melden, wenn sie ein Problem haben.» Die Gespräche dauern dann schon mal bis in den späten Abend oder sogar in den frühen Morgen, wie bei den Eltern einer 16-Jährigen aus Bayern. «Viele Eltern sind völlig verzweifelt.»

Die Beratung von VPN (Violence Prevention Network) ist das Herzstück des hessischen Präventionsnetzwerks gegen Salafismus, das in Deutschland in der Weise einzigartig ist. Die «Beratungsstelle Hessen - Religiöse Toleranz statt Extremismus» hat ihren Sitz in Frankfurt.

Vier Fachleute mit muslimischen Wurzeln arbeiten mit Syrien-Rückkehrern, Salafisten und deren Angehörigen, halten Vorträge und beraten Lehrer. Sie gehen auch ins Gefängnis und suchen Kontakt zu Inhaftierten.

Kürzlich rief VPN auch in Berlin ein Antiradikalisierungsnetzwerk mit zwei Beratern ins Leben. Außerdem ist die NGO - ebenfalls bundesweit einmalig - mit zwei Fachleuten in der Sehitlik-Moschee im Stadtteil Neukölln vertreten. «Es geht darum, die Beratung in die Moschee zu tragen», sagt VPN-Sprecherin Cornelia Lotthammer. Das Präventions-Projekt (BAHIRA), an dem auch der Zentralrat der Muslime in Deutschland beteiligt ist, richte sich an alle.

Zu mehr als 100 Familien und 40 jungen Menschen haben die Berater in Hessen nach rund einem dreiviertel Jahr Kontakt, wie Mücke sagt. Und es werden ständig mehr. Trotz aller Berichte über Frauen, die es nach Syrien zieht, sei Extremismus ein Männer-Phänomen. Die meisten radikalisierten Salafisten sind demnach 17 bis 19 Jahre alt, manche auch erst 14, andere schon 23. Längst nicht alle stammten aus Familien mit muslimischen Wurzeln. «Es sind auch viele konvertierte Deutsche dabei.»

Wer ist für den Salafismus besonders anfällig? «Jeder Einzelfall ist anders», betont Mücke. Aber es gibt auch Gemeinsamkeiten: Die Familien sind meist nicht sehr religiös und wissen auch nicht viel über den Islam. Häufig fehlt der Vater. Die jungen Leute haben ein niedriges Selbstwertgefühl. Oft kommt eine Diskriminierungserfahrung dazu, wie einer der Frankfurter Berater sagt, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Auf der Suche nach ihrer eigenen Identität und den Bedürfnissen nach Wertschätzung und Gemeinschaft kommen sie dann mit radikalen Salafisten in Kontakt.

«Meist sind die sozialen Ursachen so groß wie der Mount Everest und die theologische Schicht ganz dünn», sagt der Fachmann. Bei der Entscheidung, in Syrien kämpfen zu wollen, sei manchmal auch Abenteuerlust dabei, sagt Mücke. Möglicherweise spiele gelegentlich auch eine suizidale Sehnsucht in Folge schwerer depressiver Krisen eine Rolle.

Wie arbeiten die Berater von VPN? «Das erste Ziel ist, eine Arbeitsbeziehung herzustellen», sagt Mücke. Dann gehe es darum, Straftaten und eine Ausreise oder Rückkehr nach Syrien zu verhindern. Zugleich werde mit den Betroffenen daran gearbeitet, Distanz zu der extremistischen Szene zu entwickeln, soziale Kontakte zu reaktivieren und einen Zukunftsplan aufzustellen.  Syrien-Rückkehrer seien häufig eher desillusioniert und würden von

Selbstzweifeln geplagt. Viele seien traumatisiert, aber noch nicht deradikalisiert. Wichtig sei es, mit jedem einzelnen regelmäßig in der Haft sprechen zu können. Der Kontakt zu Inhaftierten könne jedoch oft schon aus organisatorischen Gründen nicht so schnell hergestellt werden, sagt Mücke. Die Gefängnisse seien noch nicht an die Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen wie VPN gewöhnt.

«Manchmal erfahren wir dann nicht, wenn einer 'rauskommt.» Dies sei jedoch wichtig, um die radikalisierten jungen Menschen von Anfang an in der Freiheit weiter begleiten zu können.  Mit welchen Problemen rufen die jungen Leute bei den Beratern an? «So genau wissen sie das oft selbst nicht», sagt Mücke. «Es geht ihnen nicht gut, weil sie einen Konflikt hatten, gefrustet sind, etwas nicht geklappt hat.» Dann beginnt die Arbeit. Und was rät er den Eltern? «Nicht in die Kampfbeziehung gehen und die Hand ausstrecken.» (dpa)