Weltlicher Mystiker und unerschrockener Denker: Adonis erhält Friedenspreis

Er zählt zu den bedeutendsten arabischen Literaten der Gegenwart und gilt seit Jahren als Anwärter auf den Literaturnobelpreis: Der Dichter Adonis ist Freigeist und Weltbürger. In diesem Jahr erhält er den Friedenspreis der Stadt Osnabrück. Von Claudia Schülke

Sein Pseudonym ist Programm: Als Ali Ahmad Said Esber zu dichten begann, nannte er sich Adonis. Der phönizische Frühlingsgott war der Herr (Adon) der Wiedergeburt. Eine Renaissance wollte auch der syrisch-libanesische Dichter einleiten, der am 1. Januar 85 Jahre alt wurde: ein Avantgardist, der sich der Tradition verbunden fühlt. Nun wird der Anwärter auf den Literaturnobelpreis mit dem Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis der Stadt Osnabrück ausgezeichnet.

«Adonis hat nicht nur der arabischen Poesie neue Wege gewiesen, er ist vor allem ein unerschrockener Denker, der in seinen großen ideengeschichtlichen Essays das Individuum feiert, das sich über alte dogmatische Formen von Gemeinschaft und Religion hinwegsetzt», urteilt Joachim Sartorius. Der Orient-Experte hatte 2011 die Laudatio gehalten, als der Dichter mit dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main ausgezeichnet wurde.

Adonis sei «ein leidenschaftlicher Rebell gegen die geistige Erstarrung der arabischen Kultur», hieß es damals in der Begründung. In diesem Jahr erhält er am 20. November den Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis. Der in Paris lebende Lyriker sei ein wichtiger Vermittler zwischen der arabischen und der westlichen Kultur, erklärte die Jury. Der Lyriker werde für sein Eintreten für die Trennung von Religion und Staat, die Gleichberechtigung der Frauen in der arabischen Welt sowie für eine aufgeklärte arabische Gesellschaft geehrt.

Geboren wurde Adonis am 1. Januar 1930 in dem nordsyrischen Dorf Kassabin. Schon sein Vater, ein Bauer und Imam, schrieb Gedichte. Als das damalige Staatsoberhaupt das Dorf besuchte, las ihm der 13 Jahre alte Junge selbst verfasste Verse vor. Zum Dank durfte er die französische Schule und das Gymnasium besuchen. Von 1950 bis 1954 studierte er Philosophie in Damaskus, verbrachte wegen seines politischen Engagements mehrere Monate im Gefängnis.

Mit seiner Ehefrau, der Literaturwissenschaftlerin Chalida Salih, siedelte er 1956 in den Libanon über, wo er 1973 promovierte. Adonis gehörte einem avantgardistischen Dichterkreis an, träumte von einer Wiedergeburt der arabischen Poesie aus dem Geiste Heraklits, Hölderlins und Heideggers.

«Gott ist tot», behauptet er seit seinem ersten Gedichtband - angelehnt an Nietzsche, verfasst in den freien Versen der europäischen Moderne. Seine Botschaft aus kurzen Gedichten und langen Prosahymnen legte er Mihyar, dem klassischen Dichter der Schiiten, in den Mund.

«Es gehört eine Riesenportion Mut dazu, den Monotheismus, also auch den Islam, als ein Grundübel der Menschheit zu bezeichnen, und für die vorislamischen Traditionen der Toleranz zu plädieren», urteilt Adonis-Kenner Sartorius. Der Dichter ist klar in seinen Positionen: «Religion als führende Institution bedeutet immer Tyrannei», sagte Adonis in einem Interview. «Religion ist nicht nur undemokratisch - sie ist auch essenziell antirevolutionär.»

Der Islamwissenschaftler und Adonis-Übersetzer Stefan Weidner sieht den Dichter als weltlichen Mystiker - vielen Muslimen gilt er als Ketzer. Adonis habe auch die Sexualität für die arabische Dichtung zurückerobert, sagte Weidner in seiner Laudatio auf den Poeten zur Verleihung des Petrarca-Preises 2013. «Die Liebe wird wieder Mystik, nur diesmal ohne Gottesbezug.»

Der Dichter gilt als Weltbürger und Freigeist. Er wendet sich gegen islamischen Fundamentalismus, wirft aber auch US-Amerikanern und Europäern vor, sich in kultureller Überheblichkeit gegen Fremdes abschotten zu wollen. 30 Jahre vor dem Attentat vom 11. September 2001 hatte er nach einem Besuch in den USA «Ein Grab für New York» veröffentlicht: ein Langgedicht, das im Namen des amerikanischen Rhapsoden Walt Whitman den Untergang der westlichen Metropole beschwört. Vielen gilt das Gedicht heute als prophetisch.

Adonis leide darunter, dass sein Lebensziel - die Überwindung der Widersprüche zwischen Orient und Okzident - infrage gestellt sei, sagt Sartorius. «In seiner Haltung zum syrischen Bürgerkrieg hat er relativ früh für Realismus plädiert - dass eine Lösung nicht gegen, sondern nur in Verhandlungen mit dem syrischen Diktator erreicht werden kann.» Das hat dem Dichter Kritik eingetragen. Vielleicht ist ihm auch deshalb der Nobelpreis vorenthalten geblieben. (epd)

Interview mit dem syrischen Dichter Adonis bei Qantara.de