Türkische Wahl mit kurdischem Zünglein an der Waage

Eine kleine Partei, die um den Parlamentseinzug zittern muss, könnte bei der türkischen Parlamentswahl am Sonntag zum Zünglein an der Waage werden. Die Demokratische Partei der Völker (HDP) vertritt die kurdische Minderheit im Land, will aber darüber hinaus auch nicht-kurdische Wähler ansprechen, die einen weiteren Machtzuwachs für Präsident Recep Tayyip Erdogan verhindern möchten. Mit diesem Rezept versucht die HDP, die Zehn-Prozent-Hürde ins Parlament zu überwinden. Laut den Umfragen ist nicht sicher, ob ihr das gelingt.

Normalerweise liegt die Reichweite türkischer Kurdenparteien bei etwa fünf bis sechs Prozent der türkischen Wählerschaft, doch der 42-jährige HDP-Chef Selahattin Demirtas hat seine Partei als linksliberale Reformkraft aufgestellt, die als Sammelbecken für alle Unzufriedene fungieren soll. "Wir machen Dich nicht zum Präsidenten", lautet das an Erdogan gerichtete Mantra der HDP: Demirtas verspricht, mit der HDP im Parlament werde es Erdogan unmöglich, seinen Plan zur Einführung einer Präsidialdemokratie per Verfassungsänderung in die Tat umzusetzen.

Da ein beträchtlicher Teil der türkischen Wähler die Vision Erdogans mit Misstrauen sieht, erlebte die HDP in den vergangenen Monaten in den Umfragen einen rasanten Aufschwung. Ob der Boom reicht, um die Partei über die zehn Prozent zu tragen, ist unsicher: Weil sich die Partei für die entscheidenden Prozente auf Wechselwähler verlassen muss, sind verlässliche Vorhersagen schwierig. Einige Politiker in der HDP rechnen mit bis zu 15 Prozent, doch manche Umfragen sehen die Partei klar unterhalb der Zehn-Prozent-Marke.

"Die HDP braucht nicht-kurdische Wähler, um über die Hürde zu kommen", sagte der Meinungsforscher Özer Sencar der Zeitung "Today's Zaman". Demirtas tut, was er kann, um die bei Regierungskritikern, aber auch in der Regierungspartei AKP selbst vorhandene Skepsis über Erdogans Präsidialpläne anzufachen. "Selbst einige AKP-Funktionäre beten, dass wir über die Hürde kommen", sagte er kürzlich bei einer Wahlkampfveranstaltung.

Die Schlüsselrolle bei der Wahl am 7. Juni hat die HDP dem türkischen Wahlrecht zu verdanken. Die im internationalen Vergleich sehr hohe Zehn-Prozent-Hürde wurde nach dem Militärputsch von 1980 eingeführt, um kurdische Parteien aus dem Parlament zu halten. Seitdem ließen sich kurdische Politiker als nominell parteilose Einzelkandidaten per Direktmandat ins Parlament wählen.

Doch nachdem Demirtas bei der Präsidentenwahl im vergangenen Jahr mit 9,8 Prozent der magischen Grenze sehr nahe kam, beschloss die HDP, bei der Parlamentswahl am Sonntag als Partei anzutreten. Schafft sie den Sprung ins Parlament, zieht sie mit mindestens 60 Abgeordneten in die Volksvertretung ein. Dies würde den Sitzanteil der anderen großen Parteien verringern und könnte besonders der AKP schaden. Scheitert die HDP aber mit knapp unter zehn Prozent, profitiert vor allem die AKP.

Kein Wunder, dass Erdogan alles daran setzt, die Wähler von einer Entscheidung für die HDP abzuhalten. Er greift die Kurdenpartei wegen ihrer angeblichen Nähe zur verbotenen Rebellengruppe PKK an und stellt mit Blick auf die vielen islamisch-konservativen kurdischen Wähler die Frage, ob Demirtas und der Rest der HDP wirklich gute Muslime seien. "Die Leute in den Bergen haben nichts mit dem Islam zu tun", warnte Erdogan im Wahlkampf.

Einige Beobachter sehen Erdogans scharfe Worte als Zeichen der Verunsicherung. Die HDP profitiert unter anderem davon, dass viele Kurden sich eine starke Vertretung ihrer Volksgruppe im Parlament wünschen. Auch Erdogans Weigerung, im vergangenen Jahr den kurdischen Verteidigern der nordsyrischen Stadt Kobani bei der Belagerung durch die Terrormiliz Islamischer Staat zur Hilfe zu kommen, nutzt der HDP. Der Wahltag wird zeigen, ob dieser Zuspruch für mindestens zehn Prozent der Wählerstimmen ausreicht. (AFP)

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