Totschlagsprozess gegen Soldaten - Israel am moralischen Scheideweg

Es ist einer der emotionalsten Prozesse der israelischen Geschichte. Kaum ein Fall hat die Gesellschaft derart gespalten. Das an diesem Mittwoch erwartete Urteil im Fall Elor Asaria hat große soziale Sprengkraft. Von Sara Lemel

Der 21-jährige palästinensische Attentäter liegt verletzt am Boden, bewegt nur leicht seinen Kopf. In wenigen Metern Entfernung heben Sanitäter einen Soldaten, den der Palästinenser mit einem Messer verletzt hat, in einen Krankenwagen. Auch der Sanitäter der Streitkräfte Elor Asaria hilft dabei, seinen Kameraden zu versorgen. Immer wieder gehen Soldaten dicht an dem auf dem Rücken liegenden Palästinenser vorbei, beachten ihn scheinbar nicht. Plötzlich hebt Asaria sein Gewehr und schießt dem Verletzten ohne Vorwarnung in den Kopf. Viel Blut fließt die abschüssige Straße in Hebron hinunter.

Ein Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation Betselem hat den grausigen Vorfall am 24. März vergangenen Jahres gefilmt. Weil der damals 18-jährige Asaria den Attentäter mit einem Kopfschuss tötete, obwohl dieser offenbar keine Bedrohung mehr darstellte, ist er vor einem Militärgericht wegen Totschlags angeklagt.

Der Prozess gegen Asaria spaltet Israels Gesellschaft. Er hat eine heftige Kontroverse darüber ausgelöst, unter welchen Umständen Soldaten auf Palästinenser schießen dürfen. Das Urteil in dem Fall an diesem Mittwoch dürfte deshalb Signalwirkung haben.

Der Fall ist besonders relevant wegen einer Welle palästinensischer Anschläge, bei denen seit Oktober 2015 insgesamt 37 Israelis getötet wurden. Mehr als 250 Palästinenser kamen in der Zeit ums Leben, die meisten davon wurden bei ihren eigenen Anschlägen erschossen.

Die Palästinenserbehörde und Menschenrechtler werfen den Soldaten immer wieder vor, sie seien zu schießwütig. Ultrarechte Israelis sehen die Armee dagegen als zu zaghaft und fordern, jeder palästinensische Attentäter müsse sofort erschossen werden. Unstrittig ist wohl, dass viele junge Soldaten von Einsätzen in den besetzten Palästinensergebieten und der ständigen Anspannung heillos überfordert sind.

Asaria erklärte während des Prozesses, er habe auf den Palästinenser geschossen, weil er befürchtet habe, dieser könne unter seiner Jacke einen Sprengstoffgürtel tragen und diesen zur Explosion bringen.  

Ankläger Nadav Weisman wies diese Version jedoch als Unsinn zurück. «Wenn ich diesen Fall in einer Minute zusammenfassen müsste, würde ich das Video zeigen, auf dem der Angeklagte direkt nach dem Schuss zu sehen ist», sagte er in seinem Schlussplädoyer. «Er geht mit seinen Freunden auf der Straße und sagt kein Wort über den angeblichen Sprengstoffgürtel.» Es sei durch nichts zu rechtfertigen, jemandem ohne Warnung in den Kopf zu schießen.

Auch der Generalstabschef Gadi Eisenkott hat Asarias Verhalten eindeutig verurteilt. Doch für viele rechtsorientierte Israelis ist der junge Mann, der seit zehn Monaten in Haft sitzt, ein Volksheld. Es gab viele Solidaritätskundgebungen. Die konservative Zeitung «Makor Rischon» wählte den inhaftierten Soldaten sogar zum «Mann des Jahres» 2016.

Auch Verteidigungsminister Avigdor Lieberman machte sich für Asaria stark: «Wir werden dem Soldaten beistehen, auch wenn er einen Fehler begangen haben sollte.» Erziehungsminister Naftali Bennett von der Siedlerpartei forderte gar eine sofortige Begnadigung durch den Staatspräsidenten, sollte Asaria für schuldig befunden werden.

Nach einer Umfrage des Israelischen Demokratie-Instituts unterstützt eine klare Mehrheit von 65 Prozent der jüdischen Israelis das Vorgehen Asarias als Selbstverteidigung. Unter rechtsorientierten Israelis sind es sogar 83 Prozent. Am höchsten war die Unterstützung mit 84 Prozent bei jungen Israelis im Alter von 18 bis 24 – dem Alter, in dem viele in der Volksarmee dienen.

Der Armeedienst ist in Israel Pflicht - für Frauen zwei, für Männer knapp drei Jahre. Das Militär nennt sich selbst gern die «moralischste Armee der Welt» und ist stolz auf seinen ethischen Kodex, bekannt als «Reinheit der Waffen». Doch der Fall Asaria untergräbt diesen moralischen Anspruch.

Immer mehr würden Werte wie Menschlichkeit und Demokratie auf dem Altar der Sicherheit geopfert, schrieb Ami Ajalon, ehemaliger Chef des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet, in einem Kommentar. Das Verhalten des jungen Soldaten, den viele Israelis als «unseren Jungen» bezeichnen, sei ein «Paradebeispiel für moralischen Verfall». (dpa)