Endstation Domiz

Die Zahl der syrischen Flüchtlinge in den Nachbarländern hat dramatisch zugenommen. Im nordirakischen Flüchtlingslager Domiz kommen jeden Tag 700 Menschen an, die vor der Gewalt geflohen sind. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und die kurdische Autonomieregierung sind überfordert. Eine Reportage von Jan Kuhlmann

Von Jan Kuhlmann

Staub, überall Staub. Das ist das erste, was Rangin morgens erblickt, wenn er aus dem Zelt schaut, und abends das letzte, was in den Augen brennt, bevor er auf einer Matratze einschläft. Auch an diesem Vormittag verwandelt der Staub die Luft im Flüchtlingslager Domiz bei jedem Windstoß in eine braune Wolke. Oben am Himmel glüht die Sonne, selbst jetzt noch, Anfang September. Es fühlt sich an, als brenne sie den Staub in die Haut.

Staub, das ist Sand, der in seine kleinsten Einzelteile zerfallen ist. So wie Rangins altes Leben als Schneider in Damaskus. Davon ist auch wenig übriggeblieben.

Das syrische Flüchtlingslager Domiz in den kurdischen Autonomiegebieten im Nordirak, es ist ein trauriger Ort. An den Wegen reiht sich Zelt an Zelt mit der verblassten Aufschrift "UNHCR". Darin hocken Männer, Frauen und Kinder, die vor der Sonne Schutz suchen und nicht wissen, was das Leben ihnen noch bringt. Die Gewalt in Syrien hat zahllose Kurden nach Domiz vertrieben, eine ganze Kleinstadt ist hier in den vergangenen Wochen herangewachsen. Und täglich wird sie größer.

Jungs laufen durch die Gegend und verkaufen Zigaretten und Telefonkarten. Ihre Ware preisen sie mit lauten Rufen an. Hin und wieder fliegt ein Hubschrauber über das Gelände. Lastwagen fahren durch das Eingangstor und bringen das, was am meisten fehlt: frisches Trinkwasser. Irgendwer wollte für die Kinder etwas Gutes tun und hat zwei Spielgeräte aufgestellt: eine Wippe und eine Rutsche. Die Rutsche ist voller Sand, die Wippe verrostet. Vielleicht wollte jemand auch nur alten Schrott loswerden.

Flüchtlingslager Domiz im Nordirak; Foto: Jan Kuhlmann
Elend grenzenlos: Allein im Camp Domiz bei der Stadt Dohuk sind mehr als 27.000 Syrer auf engstem Raum untergebracht. Es fehlt an Essen, Zelten und sanitären Einrichtungen für die Flüchtlinge.

​​Rangin – 25 Jahre alte, kräftige Statur, modischer Bart – versucht an diesem Vormittag, bei den Bürocontainern am Eingang des Lagers etwas zu essen zu bekommen oder ein paar Decken. Aber der junge Kurde bleibt genauso erfolglos wie die anderen Männer, die hier herumstehen. Ihre Gesichter sind schmal, ihre Blicke müde. Manche haben sich Handtücher auf den Kopf gelegt, um sich vor der Sonne zu schützen.

Auf der Flucht vor Assads Schergen

"Wir sind vor dem Assad-Regime geflohen", sagt Amin, ein stämmiger Mann mit dröhnendem Bass, der wegen eines verkrüppelten Beines an Krücken läuft. "Das Regime tötet alle, Araber, Kurden, alle." Amin trägt ein T-Shirt, auf dem eine deutsche Flagge zu sehen ist.

Rangin will zurück zu dem Zelt, in dem er mit seiner Familie untergekommen ist, als plötzlich eine ältere Frau aus dem Nichts auftaucht. Tränen stehen ihr in den Augen. "Niemand hilft uns, niemand hat uns irgendetwas gegeben", sagt sie mit brüchiger Stimme. "Wir sind acht Personen und haben nichts. Ich bin jetzt seit vier Tagen hier und lebe noch immer auf der Straße." Dann kann sie ihre Tränen nicht mehr halten, dreht sich um und verschwindet wieder.

Rangin klettert über einen aufgeschütteten Wall aus Sand und läuft zu seinem Zelt. Früher muss ein paar Meter weiter ein Fußballplatz gewesen sein. Übrig geblieben sind nur die Pfosten eines Tores. In Rangins Zelt hocken seine Frau, seine zwei Jahre alte Tochter und die anderen Verwandten, die mit ihm geflohen sind. Drei Matratzen passen in das Zelt. Drei Matratzen für sechs Erwachsene und drei kleine Kinder.

 Kurdischer Flüchtling Amin im Flüchtlingslager Domiz, Foto: Jan Kuhlmann
"Das Regime tötet alle, Araber, Kurden, alle": Kurdischer Flüchtling Amin im Flüchtlingslager Domiz

​​In Damaskus haben Rangin und seine Familie am Stadtrand gelebt. Zuerst kamen die Rebellen und nahmen das Viertel ein. Dann schickte das Regime Flugzeuge und Bomben. "Sie haben unser Haus dem Erdboden gleich gemacht", sagt Rangin mit rauer Stimme. Sein Bruder starb. Er war Zivilist. "Wir mussten alles zurücklassen."

Sie flohen mit dem Auto bis zur Grenze im Norden Syriens, dann weiter zu Fuß. Auf der irakischen Seite halfen ihnen die Peschmerga. Über die Kämpfer der Kurden im Irak erzählen die Flüchtlinge in Domiz viel Gutes.

Mitten im Elend

Rangin und seine Verwandten hatten gehofft, in Domiz nicht nur Sicherheit zu finden, sondern auch Hilfe. In Sicherheit mögen sie sein, an Hilfe aber mangelt es. Im Lager fehlen Duschen und Toiletten. Seit einer Woche sind sie nun hier. Tagelang hätten sie sich nicht gewaschen und nichts gegessen, sagt Rangin.

"Unsere Kinder haben großen Hunger. Wir haben nichts zu essen und auch kein Geld." Und um zu zeigen, dass ihm nichts geblieben ist, zieht er sein Portemonnaie aus der Tasche. Es enthält nichts außer einigen wenigen Scheinen syrischer Lira.

Er geht ein paar Schritte weiter zu einem zweiten Zelt, das seiner Familie eigentlich zugewiesen worden ist. Es besteht nur aus Fetzen, und als er es öffnet, nimmt einem der beißende Geruch die Luft zum Atmen. In diesem Zelt kann niemand wohnen.

Es ist schwer zu verstehen, warum eine so große Organisation wie das UNHCR es nicht schafft, die Flüchtlinge zu versorgen. Fehlt es an Geld, an Strukturen, an Willen? Die Fragen bleiben an diesem Freitag unbeantwortet, jedenfalls von Seiten der UN-Flüchtlingshilfe. Es ist Wochenende. Da ist das Büro der Organisation geschlossen. Elend hin oder her. Rangin ist darüber empört. "Wir dachten, die UN würden uns helfen", schimpft er. "Aber sie macht ihre Arbeit nicht."

Antworten gibt an diesem Tag zumindest Abdullah Hamo, ein Mann mit rundem Bauch. Gerade ist er von einer Tour durch das Lager in sein Büro zurückgekehrt und hat an einem Schreibtisch Platz genommen, der mit einer feinen Staubschicht überzogen ist. Der Raum in einem Bürocontainer ist dunkel, auch die Klimaanlage schweigt – der Strom ist ausgefallen.

Bis vor Kurzem, sagt Abdullah Hamo, Leiter der Immigrationsbehörde der kurdischen Autonomieregierung, habe es im Lager keine Probleme gegeben. "Alles lief gut, wir hatten einen Plan." Dann aber kam der Fastenmonat Ramadan, und mit ihm nahm die Gewalt in Syrien zu. Die Zahl der Flüchtlinge ist drastisch angestiegen. Abdullah Hamo nimmt ein Blatt Papier und malt Zahlen und Pfeile, die steil nach oben zeigen: Bis Mitte August seien täglich 50 Syrer in Domiz angekommen, dann mehr als 200. "Jetzt sind es jeden Tag 700", stöhnt Hamo. "Die Lage ist außer Kontrolle geraten."

Hamo läuft auf die Straße und geht in den Teil des Lagers, der ein wenig ausgebaut worden ist. Hier hat er Häuser aus grauen Steinen mauern lassen. "Alle mit Toilette, Dusche und Küche", sagt Hamo. Diese Häuser mögen mehr sein als die engen Zelte – und doch ähneln sie eher dunklen Löchern. Ein paar Meter weiter den Weg hoch, hämmert jemand eine Eisenstange in die Erde, um eine Satelliten-Antenne aufzubauen. Fernsehen könnte ein wenig Abwechslung in as eintönige Leben im Lager bringen.

Ränkespiel der regionalen Akteure

Bevor sich Hamo verabschiedet, schimpft er noch auf die irakische Zentralregierung. "Sie geben uns keinerlei Hilfe", sagt er. "Sie haben daran kein Interesse." Der Syrienkonflikt ist einer von vielen Streitpunkten zwischen Bagdad und der kurdischen Autonomieregierung in Erbil. Die Zentralregierung mit dem Schiiten Nouri al-Maliki an der Spitze erklärt sich zwar offiziell für neutral, unterstützt aber, zumindest heimlich, das Assad-Regime. Sie muss sich vorhalten lassen, Waffentransporte aus dem Iran über den irakischen Luftraum zu dulden.

Der irakische Ministerpräsident Nouri al-Maliki (r.) und Massoud Barzani, Präsident der halbautonomen Kurden-Region, Foto: dpa/picture alliance
Politisches Tauziehen im Syrienkonflikt: Der irakische Ministerpräsident Nouri al-Maliki erklärt sich zwar offiziell für neutral, unterstützt aber das Assad-Regime. Der kurdische Präsident Massoud Barzani dagegen versucht, sich an die Spitze auch der syrischen Kurden zu stellen.

​​Der kurdische Präsident Massoud Barzani dagegen versucht, sich an die Spitze auch der syrischen Kurden zu stellen. Ende Juli gab er in einem Interview zu, syrische Kurden militärisch auszubilden. Unter seiner Schirmherrschaft haben sich verschiedene Parteien zum Kurdischen Nationalrat (KNC) zusammengeschlossen.

Zuletzt ist es ihm gelungen, den KNC und den syrischen PKK-Ableger "Demokratische Union" (PYD) auf eine gemeinsame Linie einzuschwören. Die PYD kontrolliert syrische Gebiete an der Grenze zur Türkei – sie steht immer wieder unter Verdacht, auch mit Assad zu kooperieren. Barzani will seinen Einfluss ausdehnen, denn sollte Assad stürzen und Syrien auseinander brechen, dann wäre das eine günstige Gelegenheit, um dem Traum der Kurden von einem eigenen Staat neue Nahrung zu geben.

Vor dem Zelt von Rangin hat sich eine Gruppe von Männern versammelt, die diskutieren. Sie haben von Massoud Barzani eine klare Meinung. Als Amin ein kurzes Loblied auf ihn einstimmt, applaudieren sie ihm.

Die Männer berichten von willkürlichen Festnahmen und Folter in Damaskus. Jeder, der verdächtig sei, lande im Gefängnis, sagt ein Mann – Sunniten und Kurden. Er erzählt, wie er mit 40 Männern in einer Zelle saß, wie die Wachen keine Fragen stellten, sondern nur Schläge austeilten, und wie er nach zwei Wochen wieder nach Hause kam und nichts mehr zu essen hatte. "Die Preise für Essen und Benzin haben sich in Damaskus vervierfacht."

Jedem Abtrünnigen droht die Kugel

Die Männer schimpfen über das Regime in Teheran, das den Diktator in Damaskus unterstützt. Sie berichten von iranischen Scharfschützen, die es nicht nur auf Regimegegner absehen, sondern auch die syrischen Truppen unter Druck setzen: Jedem, der abtrünnig wird, droht eine Kugel.

Rangin unterstützt die Freie Syrische Armee, die den Diktator beseitigen will. Aber auch er ist Realist: "Sie hat nicht die richtigen Waffen, um Assad zu bekämpfen." Niemand widerspricht, als er eine ausländische Militärintervention fordert: "Wenn es keine Luftunterstützung für die Opposition gibt, wird das Regime nicht stürzen. Die USA und Europa müssen kommen und uns helfen."

Rangin ist mittlerweile klar geworden, dass Domiz vor allem eins ist: eine Endstation, an der er und seine Familie festsitzen. Vielleicht für Wochen. Vielleicht für Monate. Vielleicht für Jahre. Ihm bleibt nur die Hoffnung, dass der Diktator stürzt. "Die Lage in Syrien wird aber nur besser, wenn Assad und sein System zusammenbrechen", sagt Rangin. "Wenn nicht, dann ist es besser hier zu sterben als in Syrien durch die Hände Assads."

Jan Kuhlmann

© Qantara.de 2012

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de