Sunniten gegen Schiiten: Kampf der Konfessionen im Nahen Osten?

Vor 1.400 Jahren entstanden die beiden großen Strömungen des Islam. Noch heute dient der Gegensatz zwischen Sunniten und Schiiten als Erklärung für Konflikte im Nahen Osten. Doch der Ansatz taugt nur bedingt. Von Jan Kuhlmann

Auf den ersten Blick scheinen die Fronten eindeutig. Das sunnitische Saudi-Arabien duelliert sich mit dem schiitischen Erzrivalen Iran. In Syrien bekämpfen sunnitische Rebellen ein Regime, das den Schiiten nahesteht. Im Irak setzt die sunnitische Terrormiliz Islamischer Staat (IS) eine von Schiiten dominierte Regierung unter Druck. Und im Jemen stehen Anhänger des sunnitischen Präsidenten schiitischen Huthi-Rebellen gegenüber. Sunniten gegen Schiiten: Ist im Nahen Osten ein großer Konflikt der Konfessionen ausgebrochen?

Der Gegensatz zwischen den beiden größten Strömungen im Islam ist Jahrhunderte alt. Er geht zurück auf die Anfänge der Weltreligion, als nach dem Tod des Propheten Mohammed im Jahr 632 ein Streit über dessen Nachfolge entbrannte. Eine Gruppe scharrte sich um Ali, den Schwiegersohn Mohammeds, und hielt ihn für das rechtmäßige Oberhaupt der muslimischen Gemeinde. Es kam zu Kämpfen, Ali wurde ermordet. Doch seine Anhänger blieben ihm treu. Die «Schiat Ali», die «Partei Alis», war geboren. Aus ihr entwickelten sich die Schiiten.

Noch immer prägen die Ereignisse von damals heutige Sichtweisen. Zu den wichtigsten religiösen Feiern der Schiiten zählt etwa das Aschura-Fest, das alljährlich an den Märtyrertod von Alis Sohn Hussein erinnert. Er fiel 680 in der Schlacht von Kerbela im heutigen Irak. Mit Passionsspielen erinnern die Schiiten an sein Ende vor fast 1.400 Jahren. «Labaik, ya Hussein», «Zu Deinen Diensten, oh Hussein» nannten Iraks Schiiten-Milizen auch ihre Offensiven gegen den IS.

Die sunnitischen Extremisten wiederum beschimpfen die Schiiten als «Rafidun» - als diejenigen, die den richtigen Glauben ablehnen. Vor allem der IS und sein Anführer Abu Bakr al-Bagdadi sind für ihre starke anti-schiitische Ideologie und Massaker an Schiiten bekannt. Dennoch warnen Kenner der Region davor, in der Geschichte angelegte Gegensätze zwischen den Konfessionen als Erklärungsmuster für die aktuellen Auseinandersetzungen heranzuziehen. «Der Ausbruch des sunnitisch-schiitischen Konflikts in den vergangenen Jahren hat wenig zu tun mit inhärenten religiösen Unterschieden oder mit 1.400 Jahre alter islamischer Geschichte», schreibt etwa der US-Nahostexperte Marc Lynch von der George Washington University.

Nicht die Religion hat ihm zufolge einen politischen Konflikt entfacht - sondern die Politik instrumentalisiert Religion für ihre Zwecke. Um einen Vorteil zu gewinnen, griffen Regime in der Region auf eine «zynische Manipulation» religiöser Identitäten zurück, meint Lynch in einem Stück für die «Washington Post».

Beispiel Irak: Unter Langzeitherrscher Saddam Hussein kontrollierten vor allem Sunniten ein Land mit einer schiitischen Mehrheit. Nach Saddams Sturz lösten die USA die Armee auf und schafften so ein massives Sicherheitsvakuum. Zuflucht und Schutz suchten und fanden die Menschen in alt eingesessenen Strukturen: Sunnitische Stämme gewannen wieder an Bedeutung, schiitische Milizen entstanden.

Zugleich kamen die Schiiten an die Macht, die seitdem die Regierungen dominieren. Vor allem der langjährige Ministerpräsident Nuri al-Maliki spielte die konfessionelle Karte, um seinen Einfluss auszubauen. «Seine Rolle war verhängnisvoll», sagt Nahostfachmann Udo Steinbach, früher langjähriger Leiter des Hamburger Orient-Instituts. «Er hat im Irak den Konfessionalismus geweckt.» Während Schiiten alle Schaltstellen der Macht besetzten, fühlten - und fühlen -  sich die Sunniten diskriminiert. Der Weg für den Vormarsch des IS war geebnet.

Verstärkt werden Konflikte wie im Irak oder auch in Syrien dadurch, dass im Hintergrund mit dem Iran und Saudi-Arabien Regionalmächte stehen, die jeweils eine der beiden Seiten unterstützen. Dabei geht es auch im aktuellen Streit der beiden Erzrivalen nicht um Religion. «Es handelt sich in erster Linie um einen politischen Machtkampf, in dem Saudi-Arabien die treibende Kraft ist», sagt Steinbach.

US-Experte Lynch vertritt die Meinung, dass Saudi-Arabien und andere sunnitisch regierte Golfstaaten den Konfessionalismus nutzen, um sich gegen innen- und außenpolitische Bedrohungen zu wehren. Im eigenen Land steht das saudische Königshaus unter Druck, weil durch den niedrigen Ölpreis Milliardeneinnahmen fehlen - Geld, das die Saudis dringend brauchen, um soziale Spannungen zu dämpfen.

Außenpolitisch hat Saudi-Arabien vor allem das Atomabkommen mit dem Erzrivalen Iran geschockt, das mit den USA ausgerechnet ein traditioneller Verbündeter des Königreichs vorangetrieben hat. Durch die Veränderung der Großwetterlage gebe es nun in Riad eine «tiefe außenpolitische Verunsicherung», sagt Steinbach. «Die Saudis handeln blind mit Rundumschlägen. Sie dämonisieren den Iran.»

Beispiel Jemen. Dort werfen die Saudis den schiitischen Huthis vor, sie würden vom Iran finanziert. Seit März bombardieren saudische Jets Stellungen der Rebellen. Dabei ist das arme Bürgerkriegsland ein gutes Beispiel dafür, warum der Gegensatz der Konfessionen als Erklärung für den Konflikt nur bedingt taugt.

So gehören die Huthis den Saiditen an, einer schiitischen Strömung, die dem sunnitischen Islam nahe steht. Saiditen und Sunniten beten im Jemen gemeinsam in Moscheen. In ihren Anfängen waren die Huthis eine politische Bewegung, die sich gegen ihre Marginalisierung im Norden des Landes wehrte. Verbündet sind sie heute mit Ex-Präsident Ali Abdullah Salih, der während der arabischen Aufstände sein Amt abgeben musste. Auch er gehört den Saiditen ein. Im aktuellen Konflikt aber geht es ihm nur um eins: seine Macht zurückzugewinnen. (dpa)