Die Derwische von Prizren

Das Kosovo ist ein mehrheitlich muslimisches Land. Religion spielt dennoch eine untergeordnete Rolle. Entsprechend tolerant zeigt man sich gegenüber alternativen Lesarten des Islam, etwa den seit Jahrhunderten im Land anzutreffenden Derwischorden. Von Thomas Fuster

Am 14. Dezember 2001 änderte sich das Leben von Abidin Shehu grundlegend. Vor diesem Tag war Abidin ein Jugendlicher wie viele andere auch in Prizren – einer, der mit seinem Motorrad durch die Straßen raste, in Diskotheken aufkreuzte und, so erzählt man sich in der Stadt, am liebsten DJ geworden wäre.

Doch aus der DJ-Karriere wurde nichts. Denn mit jenem Dezembertag vor zehn Jahren begann der Ernst des Lebens: Abidin übernahm im jungen Alter von 19 Jahren die Leitung eines Derwischordens, der seit neun Familiengenerationen in Prizren, einer Stadt im Süden Kosovos, angesiedelt ist.

Im Kreis der Ahnen

Der Verantwortung – und wohl auch Bürde – der familiären Herkunft wird man gewahr, wenn man das Zentrum des Ordens, die sogenannte Tekke, in der pittoresken Altstadt von Prizren besucht. Direkt beim Eingang, von der Gasse aus für jeden Fußgänger einsehbar, sind die Sarkophage der früheren Führer des Ordens aufgebahrt, bedeckt mit grünem Samt.

Setzt sich die jahrhundertealte Tradition fort, werden in diesem Mausoleum irgendwann auch die Gebeine von Abidin ruhen und irgendwann jene seines Sohns. Denn gemäß dem lokalen Brauch der hiesigen Derwische wird die Führung der Gemeinschaft per Erbfolge übertragen, von einer Generation zur nächsten.

Wer seine Arbeit im Kreise der hingeschiedenen Ahnen absolviert und ständig an die eigene Sterblichkeit erinnert wird, dem wäre ein schwermütiger Charakter verzeihlich. Doch Sheik Abidin, wie der Vater zweier Kinder würdevoll angesprochen wird, wirkt unbekümmert. Gekleidet in blaue Jeans und ein olivgrünes Sweatshirt, nimmt er im Empfangsraum der Tekke Platz und erzählt von der Geschichte des Ortes.

Er beginnt mit dem Jahr 1713, als dieser Ableger des Halveti-Ordens von Sheik Osman ins Leben gerufen wurde. Seither hat man hier diverse Kriege und Konflikte überstanden. Im lauschigen Innenhof, inmitten kunstvoller Steinfiguren und Wasserspiele, wähnt man sich denn auch an einem Ort, wo einem die Zeit wenig anhaben kann.

Gegenüber vom Empfangsraum, ausgelegt mit orientalischen Teppichen und verziert mit osmanischen Kalligrafien, befindet sich der kreisförmige Andachtsraum. Hier treffen sich die Mitglieder des Ordens allwöchentlich zu ihren religiösen Ritualen. In der sufistischen Strömung des Islam, auf der die Derwische basieren, werden diese Riten als Dhikr bezeichnet. Jeder Orden kennt seine eigenen Dhikr.

Sie reichen von stiller Meditation über rhythmische Sprechgesänge bis hin zu lauten und mitunter ekstatisch anmutenden Tänzen. Ist im westlichen Ausland von Derwischen die Rede, werden damit zumeist solche Tänze mit wehenden Gewändern und raschen Drehbewegungen um die eigene Achse assoziiert.

Doch nicht alles ist Kontemplation oder Trance in der Tekke. Vieles bei Sheik Abidin mutet sehr weltlich an. Denn als Chef über eine 20.000 Männer und Frauen umfassende Organisation, die sich ausschließlich über Spenden finanziert, ist Abidin auch so etwas wie ein Manager.

Auf die Frage nach seinem schwierigsten Entscheid im vergangenen Monat erwähnt der Sheik denn auch das Ringen um die Vor- und Nachteile einer wirtschaftlichen Beteiligung an einem Gartenbaugeschäft in der Region. Seine Tage verbringt er meist mit dem Empfang von Gästen, die Ratschlag von ihm suchen. Das reiche von privaten Fragen, etwa jener nach dem richtigen Ehepartner, bis hin zu Themen eher ökonomischer Natur.

Unter Generalverdacht

Von der Politik hält sich der Orden fern, auch aus Selbstschutz. So stand die Bewegung in kommunistischer Zeit unter Generalverdacht. Zwar wurden die Derwische laut Abidin nicht offiziell verboten; hinter den Kulissen betrieb das Regime dennoch eine Obstruktionspolitik. Wer etwa zur Hochzeitsfeier auch den Sheik des Derwischordens einlud, wurde am Abend nicht selten mit unklarer Begründung auf den Polizeiposten geführt.

Sinan Pasha Mosque in Prizren; Foto. wikipedia
Die Ausbreitung des sunnitischen Islam im Kosovo begann im 15. Jahrhundert. Aus Anatolien kommend, machten sich dort im Laufe der Zeit auch Derwischorden breit.

​​Es habe damals große Unsicherheit geherrscht, was toleriert war und was nicht. Nach dem Tod des Großvaters, der sich oft mit den Kommunisten anlegte, durfte dessen Leichnam auf amtliche Weisung nicht in einen Sarkophag der Tekke gelegt werden. Er musste begraben werden. Im Nachhinein wurden die Überreste gleichwohl in den Kreis der Ahnen übergeführt, wie von der Tradition vorgesehen.

Auch im Kosovokrieg 1998/99 ging der Orden auf Distanz. Das war insofern glaubwürdig, als die Derwische dem Pazifismus des Sufismus nahestehen und kaum zur Waffe greifen. Aufgrund der liberalen Auslegung des Koran gab es auch keine Schnittflächen mit radikalen oder politischen Lesarten des Islamismus, wie sie etwa von Wahhabiten vertreten werden.

Als Feindbilder eines drohenden Islamismus taugten die Derwische daher kaum. Gänzlich verschont wurden sie in den Kriegsjahren dennoch nicht. In Orahovac – neben Prizren und Gjakova ein weiteres Zentrum der Derwische in Kosovo – wurde ein älterer Sheik ermordet; fünf Tekken wurden zudem zerstört und bei Brandanschlägen wertvolle Bibliotheken vernichtet.

Ehemals christliche Region

Doch die Derwische haben im heutigen Kosovo schon viele Konflikte kommen und gehen sehen. So begann die Islamisierung der ehemals christlich dominierten Region bereits im 15. Jahrhundert, fast zeitgleich mit der osmanischen Eroberung.

Es dauerte bis zirka 1800, ehe die Muslime die Mehrheit stellten. Ein nicht unwesentlicher Grund für die Konversion waren die hohe Steuern, die Christen abverlangt wurden. Für orthodoxe Serben war der Wechsel der Religion zudem eine Art Rückversicherung gegen Übergriffe der Muslime.

Islamisierungsschübe erfolgten daher oft nach militärischen Krisen der Osmanen, weil dann der steuerliche Druck und die Aggressivität gegenüber Christen besonders zunahmen. Zwar erfolgte die Islamisierung vor allem in sunnitischer Ausprägung, der bis heute dominanten Religion Kosovos. Aus Anatolien kommend, machten sich aber auch Derwischorden breit.

Obschon zahlenmäßig klar untergeordnet, sprachen die Orden mit ihrer Mystik breite Bevölkerungskreise an. Die angebotenen Riten, die im Unterschied zu sunnitischen Praktiken auch Tanz und Musik umfassten, versprachen eine persönlichere und unmittelbarere Beziehung zu Gott. Angesprochen fühlten sich davon nicht zuletzt weniger gebildete Christen; dies auch deshalb, weil die Sufis ihre Überzeugungen recht unkompliziert an lokale christliche Traditionen anpassten, was den Übertritt zu dieser heterodoxen Form des Islam entsprechend erleichtert hat.

Wie viele Kosovaren heute Mitglieder eines Derwischordens sind, ist unklar. Dies hat zum Ersten damit zu tun, dass diese Gruppe in religiösen Erhebungen nicht separat aufgeführt, sondern der großen Mehrheit der Muslime, bestehend aus Albanern, muslimischen Slawen, Roma und Türken, zugeordnet wird. Zum Zweiten führen die einzelnen Tekken nur Buch über die Grösße der eigenen Orden. Offizielle Daten zur Zahl aller Kosovaren, die sich einer der insgesamt über 50 Tekken im Land zugehörig fühlen, existieren daher keine. Schätzungen gehen aber davon aus, dass bis zu fünf Prozent der 1,77 Millionen Einwohner dieser Gruppe zuzuordnen sind.

Religion als Nebensache

Das Verhältnis gegenüber anderen Muslimen ist unverkrampft, namentlich in Prizren, das seit je als Schmelztiegel unterschiedlichster Kulturen gilt. Da die Derwische hier seit Jahrhunderten ihren Traditionen nachleben, hat man sich aneinander gewöhnt.

Die Klosterkirche Gračanica aus dem Jahr 1311; Foto: wikipedia
Unbelastetes Verhältnis zu anderen Religionsgemeinschaften: "Auch der Krieg zwischen der albanischen Mehrheit und den Serben war nie in erster Linie ein Konflikt zwischen Muslimen und orthodoxen Christen", schreibt Thomas Fuster.

​​Die liberale Islam-Interpretation der Derwische provoziert bei einigen Sunniten gleichwohl Stirnrunzeln, etwa wenn in einigen Orden die Gebetsrituale ohne geschlechtliche Trennung erfolgen oder wenn auch im Genuss von Alkohol nichts Negatives gesehen wird. Einige Kritiker verurteilen zudem die von den Derwischen betonte Einheit der Existenz als eine Gleichsetzung von Gott mit dem Universum und somit als eine Form des Pantheismus.

Doch laute Auseinandersetzungen haben diese Differenzen keine zur Folge. Den Derwischen, deren Rituale in der Türkei nach Ausrufung der Republik durch Atatürk verboten wurden, kommt in Kosovo entgegen, dass Religion in der Öffentlichkeit eine untergeordnete Rolle spielt. Auch der Krieg zwischen der albanischen Mehrheit und den Serben war nie in erster Linie ein Konflikt zwischen Muslimen und orthodoxen Christen.

So definieren namentlich die Kosovo-Albaner ihre Identität nicht durch die Religion, sondern durch die Sprache. "Die Religion der Albaner ist das Albanertum", lautet das berühmte Diktum von Pashko Vasa, einem albanischen Schriftsteller aus dem 19. Jahrhundert; die Aussage gilt noch heute.

Es ist diesem vergleichsweise unreligiösen Umfeld zu verdanken, dass die Derwische laut einer Analyse der International Crisis Group in Kosovo eine weit gewichtigere Rolle spielen als in jeder anderen islamisch geprägten Gesellschaft der Region. Zwar sind Derwische auch in benachbarten Ländern anzutreffen, namentlich in Albanien, im westlichen Mazedonien oder im südserbischen Presevo-Tal.

Doch die Aversion der Kosovo-Albaner, sich eine islamische Identität überstülpen oder die Religion in die Politik einfließen zu lassen, dürfte die Toleranz gegenüber anderen Religionen und alternativen Interpretationen des Islam in besonderem Maß gefördert haben.

Sheik Abidin verströmt denn auch die Aura des Selbstverständlichen, des Bodenständigen. Er versteht die Führung des Ordens nicht zuletzt als rechtschaffenen Beruf, frei von jedem Standesdünkel. Anders als in der Türkei, wo die Derwische angesichts der rigiden Kontrolle alles Religiösen durch den Staat zur blossen Touristenattraktion verkommen, bleiben die kosovarischen Derwische im Alltag der Mitglieder verankert. Man klopft beim Sheik an, holt sich Rat, betet zusammen und geht zurück an die Arbeit. Das schafft Bande über Generationen und Landesgrenzen hinweg.

Beim Besuch der Tekke treffen wir auf einen Kosovaren, der seit Jahren in der Schweiz lebt. Der Besuch beim Derwischorden, so versichert er uns, steht bei seinen Ferien in der Heimatstadt stets an oberster Stelle.

Thomas Fuster

© Neue Zürcher Zeitung 2011

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de