Eine Schicksalswahl

Für viele liberale Ägypter bedeutet die Stichwahl um die Präsidentschaft eine Wahl zwischen Pest und Cholera – lehnen sie doch Ex-Luftwaffenchef Ahmed Shafik als Mann des verhassten Mubarak-Regimes ebenso ab wie den undurchsichtigen Vertreter der Muslimbruderschaft, Mohamed Mursi. Von Claudia Mende aus Kairo

Von Claudia Mende

Am kommenden Wochenende haben rund 50 Millionen wahlberechtigte Ägypter die Qual der Wahl, wenn die Präsidentschaftswahl in die finale Phase geht. Seit Wochen fiebert das Land dieser Entscheidung entgegen. Überlebensgroße Wahlplakate zieren Bürotürme und Hinterhöfe in Kairo. Die Gesichter der Kandidaten säumen vierspurige Schnellstraßen, die Geschäfte der Innenstadt und die mit Müll übersäten Gassen der Elendsviertel.

Polizeistaat oder Gottesstaat?

Zur Auswahl stehen zwei Kandidaten, die beide bei den Anhängern der Protestbewegung vom Tahrirplatz für tiefe Frustration sorgen: Ex-General Ahmed Shafik und der Muslimbruder Mohamed Mursi verkörpern für sie die Alternative zwischen Restauration des alten Regimes und der Herrschaft der Islamisten. Polizeistaat oder Gottesstaat, das scheint hier die einzige Frage zu sein.

Ahmed Shafik, ein Ex-Luftwaffen-Stabschef, ist ein Mann des Mubarak-Regimes. Er war seit 2002 unter Mubarak Minister für Luftfahrt, sanierte in seiner Amtszeit durchaus erfolgreich die ägyptische Fluggesellschaft Egypt Air und öffnete sie für ausländische Investoren. Dabei soll es allerdings zu massiven Unregelmäßigkeiten gekommen sein.

Auch sonst wird Shafik der Korruption verdächtigt. Gewerkschafter werfen ihm Veruntreuung von Geldern des alten Dachverbands der Gewerkschaften vor, der wohl eher ein Selbstbedienungsladen für Regimetreue war als eine echte Arbeitnehmervertretung.

Außerdem gibt es immer wieder Gerüchte, Shafik stecke hinter der Kamel-Attacke auf Demonstranten auf dem Tahrirplatz vom 25. Januar 2011. Damals gab es über zehn Tote und zahlreiche Verwundete. Eine Gruppierung von Aktivisten mit dem Namen "Alliance of Egyptian Revolutionaries" hat deshalb Klage bei der Staatsanwaltschaft in Kairo gegen Shafik eingereicht.

Mubaraks "Law-and-Order"-Mann

Ahmed Shafik; Foto: AP/dapd
Ein Mann des alten Regimes: Ahmed Shafik, der letzte von Mubarak eingesetzte Premierminister, machte im Wahlkampf keinen Hehl daraus, dass er bei den Demonstranten die Verantwortung für den Verfall der öffentlichen Ordnung sieht.

​​Im Januar 2011 ernannte Mubarak den Getreuen zu seinem letzten Premierminister. Der "Law-and-Order"-Mann hat schon anklingen lassen, dass er als neuer Präsident erst mal mit eiserner Hand für Ruhe im Land sorgen wolle. Würde Shafik gewählt, dann bekäme die Militärregierung einen Anstrich demokratischer Legitimation.

Doch Shafik hat auch Unterstützer – im säkularen Lager, aber auch bei den Kopten. Viele der ägyptischen Christen fürchten sich vor einem Muslimbruder als Präsidenten. Den Anhängern der Protestbewegung ist Shafik allerdings ein Dorn im Auge, weil er ganz klar ein Mann aus der alten Elite und des Militärs ist. Die Armee hat nicht nur die politische Herrschaft im Land, sie verfügt auch über ein eigenes Wirtschaftsimperium, das der demokratischen Kontrolle entzogen ist. Daran würde Shafik sicher nicht rütteln.

Die Islamisten sind nach dem Sturz Mubaraks zur zweiten großen politischen Kraft im Land geworden. 2011 gründeten sie den politischen Arm ihrer Bewegung, die "Freiheits- und Gerechtigkeitspartei". Ihr Kandidat, Mohamed Mursi, ist ein Newcomer in der ägyptischen Politik. Das langjährige Mitglied der Bewegung ist Ingenieur, hat in den USA Raketentechnik studiert und saß wie viele Muslimbrüder unter Mubarak einige Jahre im Gefängnis.

Das "Ersatzrad" der Muslimbruderschaft

Mursi gilt als wenig charismatisch und der Kaderpartei vollkommen ergeben. Im Wahlkampf wurde er als "Ersatzrad" verspottet, denn er war nur die zweite Wahl bei den Muslimbrüdern. Er verspricht den Ägyptern soziale Gerechtigkeit und einen Ausweg aus der Armut. Der Favorit der Partei, Khairat al-Shater, wurde von der Wahlkommission ausgeschlossen, stattdessen schickte die Partei Mursi ins Rennen. Seine Wahlplakate hängen zahlreich vor allem in den ärmeren Stadtvierteln von Kairo.

Mohammed Mursi; Foto: dpa
Nur zweite Wahl: Der Kandidat der Muslimbruderschaft, Mohammed Mursi, gilt als wenig charismatisch und der Kaderpartei vollkommen ergeben. Der studierte Raketentechniker galt zunächst nur als Notlösung, da der eigentliche Wunschkandidat Khairat al-Shater von der Wahlkommission nicht zugelassen wurde.

​​Allerdings haben die Islamisten gegenüber den Parlamentswahlen schon an Nimbus verloren. Gewannen Muslimbrüder und Salafisten zusammen die Parlamentswahlen mit rund 70 Prozent der Sitze, so sah es bei den Präsidentschaftswahlen für die Vertreter des politischen Islam längst nicht mehr so rosig aus. Zwei islamistische Kandidaten erhielten zusammen rund ein Drittel der Wählerstimmen.

Neben Mursi war noch ein weiterer Islamist angetreten, der Ex-Muslimbruder Abdel Moneim Aboul Fotouh. Die Bruderschaft hatte ihn ausgeschlossen, weil er entgegen der Parteilinie seine Präsidentschaft bereits in 2011 angekündigt hatte. Zu dem Zeitpunkt schworen die Brüder noch, sie würden überhaupt keinen Kandidaten ins Rennen schicken. Jetzt nahm Aboul Futouh als unabhängiger Islamist Mursi im ersten Wahlgang etliche Stimmen weg – vom erdrutschartigen Sieg der Islamisten bei den Parlamentswahlen waren aber beide weit entfernt.

Im Abwärtstrend

"Die islamistische Bewegung hat viel Sympathie eingebüßt", sagt der politische Analyst Ammar Ali Hassan vom "Nile Center for Economic and Strategic Studies in Kairo". "Umfragen haben gezeigt, dass eine Mehrheit der Bevölkerung nicht mit der Leistung der Muslimbrüder im neu gewählten Parlament zufrieden ist."

Das wissen die Muslimbrüder und ihr Kandidat Mohamed Mursi auch. Deshalb gab sich Mursi nach dem ersten Wahlgang gemäßigt, versprach, die Kopten politisch einzubinden und Frauen keine islamischen Kleidervorschriften aufzuerlegen. Revolutionäre wie die Jugendbewegung 6. April wollen versuchen, vor der Wahl mit den Muslimbrüdern Absprachen zu treffen. Ob das gelingt, ist allerdings fraglich.

Demonstrant mit Transparent gegen Mubarak in Kairo; Foto: AP
"Hau ab, Unterdrücker!": Auch wenn Ägyptens Weg zur Demokratie noch lang sein wird, eine Rückkehr zur Ära Mubaraks ist für keinen der beiden Präsidentschaftskandidaten möglich.

​​Die entscheidende Frage am Nil aber wird sein, ob der Militärrat den Termin für die Übergabe der Macht in zivile Hände auch dann einhält, wenn der Muslimbruder Mohamed Mursi die Wahl gewinnen sollte. Die Generäle wollen nach ihrem eigenen Fahrplan am 30. Juni abtreten. Nach 60 Jahren Militärdiktatur soll Ägypten dann eine demokratisch gewählte Regierung bekommen.

"Die Zeit kann nicht zurück gedreht werden", meint Ammar Ali Hassan. Bestimmte Errungenschaften seit dem Sturz Mubaraks im Februar 2011 hält er für unwiderruflich. Dazu gehört der Konsens, dass es keine Präsidentschaft auf Lebenszeit und keine "Erbmonarchie" mehr geben wird.

Mubarak hatte zuletzt seinen Sohn Gamal als Nachfolger ins Spiel gebracht. Außerdem habe sich die politische Kultur im Land verändert, die Stagnation der Mubarakjahre ist aufgebrochen und ein neues Interesse am Gemeinwohl gerade bei den jungen Ägyptern entstanden.

"Der nächste Präsident wird kein Pharao"

Für den Journalisten und Drehbuchautor Bilal Fadl wird der neue Präsident sein Amt unter völlig neuen Voraussetzungen antreten, egal wer von den beiden das Rennen macht. Das zeige schon das erste TV-Duell zwischen zwei Kandidaten in der ägyptischen Geschichte. Bei diesem medialen Schlagabtausch wies ein Moderator die Protagonisten bei Überschreitung ihrer Redezeit in die Schranken – unter Mubarak wäre das noch unvorstellbar gewesen.

"Das ist ein klarer Bruch mit dem alten Regime", urteilt der Journalist und Drehbuchautor Bilal Fadl von der unabhängigen Tageszeitung Al-Shourouk. "Die eindeutige Botschaft dieses TV-Duells lautet: Der nächste Präsident wird kein Pharao". Außerdem ist seit dem Sturz Mubaraks eine kritische Öffentlichkeit entstanden, die sich politisch einmischt und sämtliche roten Linien und Tabus von früher ignoriert.

Fadl betreut bei Al-Shourouk eine Satireseite mit dem Namen "Die Saftpresse", auf der er das politische Geschehen schonungslos kommentiert. "Wir nehmen sie uns alle vor", sagt der Journalist, "egal wie lang der Bart ist, egal ob es schwerreiche Saudis oder mächtige Militärs sind." Wie Bilal Fadl kritisieren auch andere Journalisten, Blogger und Aktivisten sowohl den regierenden Militärrat und Repräsentanten des alten Regimes als auch die Islamisten egal ob sie sich gemäßigt geben oder salafistische Hardliner sind.

Der Kampf Ägyptens um die Demokratie werde noch lange dauern, davon ist auch Bilal Fadl überzeugt. Die Rolle der Armee im Staat und der Missbrauch der Religion durch die Islamisten werden die zentralen Themen der nächsten Jahre sein. Aber zurückkehren zur bleiernen Ära Mubaraks können weder Ahmed Shafik noch Mohammed Mursi.

Claudia Mende

© Qantara.de 2012

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de