Für eine interkulturelle Öffnung

Themen wie Gesundheit und Fürsorge für ältere Menschen mit Migrationshintergrund rücken heute immer mehr in den öffentlichen Fokus. Das deutsche Sozialsystem steht vor neuen Herausforderungen für eine interkulturelle Öffnung des Landes. Von Claudia Mende

Von Claudia Mende

Die Debatten in der Politik täuschen darüber hinweg, dass die Partizipation von Muslimen in vielen gesellschaftlichen Bereichen längst Realität ist. In Kommunen, Schulen und in sozialen Einrichtungen pochen sie auf mehr gesellschaftliche Teilhabe.

Eine neue Generation von jungen, gut ausgebildeten Muslimen drängt selbstbewusst darauf, genauso wie die christlichen und säkularen Mitbürger ihre Anliegen in die Gesellschaft einzubringen. Auf einer Tagung der katholischen Akademie in Stuttgart zusammen mit zwei Vereinen der Gülen-Bewegung, "Süddialog" und "Begegnungen" in Baden-Württemberg, ging es um christliche und islamische Initiativen für die gemeinsame Arbeit am Gemeinwohl.

Fethullah Gülen; Foto: AP
"Baut Schulen statt Moscheen!" - So das Credo des politisch umstrittenen Predigers Fethullah Gülen, der in Deutschland bereits über 20 Schulen hat errichten lassen.

​​Die katholische Akademie in Stuttgart hat sich in den letzten Jahren einen Ruf erworben als Ort des konstruktiven und offenen Gesprächs mit Muslimen. Mit den beiden Vereinen "Süddialog" und "Begegnungen" fand jetzt zum ersten Mal eine gemeinsame Veranstaltung mit Vertretern der Gülen-Bewegung statt. Die Bewegung des türkischen, in den USA lebenden Intellektuellen Fethullah Gülen, ist nicht unumstritten, hat sich aber vor allem die Themen Bildung und Dialog auf die Fahnen geschrieben.

Wachsende soziale Herausforderungen

"Die muslimische Basis ist sehr offen, da gibt es ein großes Interesse der Muslime, in den Dialog zu treten, auch der jungen Muslime", sagte Jürgen Meyer, Vorsitzender des Koordinierungsrats des christlich-islamischen Dialogs. "Die Politik bringt uns nicht voran, es ist das Interesse vor Ort, das uns weiter bringt."

Es sind die Probleme des Alltags, die vor Ort im Vordergrund stehen. Die Zuwanderer der ersten Generation werden älter, Themen wie Gesundheit und Fürsorge für die Älteren rücken in den Mittelpunkt. Familien brauchen Erziehungsberatung und Unterstützung in einem Schulssystem, bei dem der Bildungserfolg zunehmend vom Einsatz der Eltern abhängt.

Laut einer im April erschienenen Studie des Zentrums für Türkeistudien über "Islamisches Gemeindeleben in Deutschland" leisten islamische Moscheegemeinden und alevitische Gemeinden in Deutschland neben ihren religiösen Angeboten auch eine Menge an sozialen Dienstleistungen.

Die Untersuchung im Auftrag der Islamkonferenz stellt erstmals belastbare, bundesweite Daten über das Innenleben der Gemeinden zur Verfügung. Danach bieten über 40 Prozent der Gemeinden ihren Mitgliedern Sozial- und Erziehungsberatung an, mehr als die Hälfte unterstützt Schüler mit einer Hausaufgabenhilfe, in rund 36 Prozent der Moscheegemeinden gibt es auch Gesundheitsberatung für die Gläubigen. Ein großer Teil dieses sozialen Engagements geschieht ehrenamtlich.

Familienberaterin Aylin Yanik-Senay vom Begegnungs- und Fortbildungszentrum muslimischer Frauen; Foto: DW
Muslime in Deutschland bringen sich längst mit ihrer islamischen Identität ein und wirken an der Zukunftsgestaltung des Landes mit: Familienberaterin Aylin Yanik-Senay vom Begegnungs- und Fortbildungszentrum muslimischer Frauen in Köln

​​Bisher verfügen Muslime noch über wenig institutionelle Strukturen im sozialen Bereich. Aber die sozialen Aufgaben werden in Zukunft weiter wachsen, betonte Havva Engin von der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg. Auch wenn für viele traditionelle Muslime Alten- und Pflegeheime noch undenkbar sind, wird die Versorgung pflegebedürftiger älterer islamischer Migranten außerhalb der Familie in den nächsten Jahren ein großes Thema werden.

Interkulturelle Öffnung der Kirchen noch am Anfang

In Zukunft werden mit Sicherheit auch mehr Hospize benötigt, die sich auf die speziellen Bedürfnisse von Muslimen einstellen. Solche sozialen Dienste verlangen eine Professionalisierung, sie sind ehrenamtlich nicht mehr zu leisten. Caritas und Diakonie leisten ihre soziale Arbeit in Kindertagesstätten, Beratungsstellen, Alten- und Pflegeheimen mit staatlicher Regelfinanzierung.

Für die soziale Arbeit der Muslime dagegen gilt das nicht. Für Havva Engin läuft es entweder darauf hinaus, dass es einen eigenen muslimischen Wohlfahrtsverband geben wird oder die kirchlichen Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie stärker Muslime in ihre Strukturen einbinden. Der Zentralrat der Muslime hat bereits einen eigenen islamischen Wohlfahrtsverband gefordert. Die kirchlichen Wohlfahrtsverbände stehen bei der interkulturellen Öffnung noch am Anfang.

Zwar haben Caritas und Diakonie das Thema entdeckt und ihre Dienstleistungen stehen jedem offen, unabhängig von Konfession und Religion. Zurzeit arbeiten sie vorrangig an der interkulturellen Schulung des eigenen Personals. Die Mitarbeiter sollen lernen, mit sensiblen interreligiösen Fragen besser umzugehen.

Interkulturelle Öffnung muss aber viel weiter gehen. Migranten müssten als Mitarbeiter auch in die Strukturen einbezogen werden und das bedeutet langfristig, dass sie diese auch mitgestalten werden. Diese Forderung hat auch die Integrationsministerin Bilkay Öney (SPD) in Baden-Württemberg vor kurzem aufgestellt.

Bei der Caritas kann man sich das allerdings nicht vorstellen. Bis jetzt gibt es vereinzelt Muslime, die zum Beispiel im Bereich Altenpflege bei der Caritas beschäftigt sind. Für den Caritasverband auf Bundesebene soll es bei diesen Einzelfällen bleiben. Eine breitere Öffnung würde eine Änderung der kirchlichen Dienstordnung bedeuten, das steht im Moment nicht zur Debatte.

Einzelne Diözesanverbände der Caritas sind hier offener. In der Diözese Rottenburg-Stuttgart wird diese Frage angesichts einer steigenden Zahl fachlich qualifizierter Muslime ernsthaft diskutiert.

Lehrer Bülent Senkaragoz unterrichtet Schüler im Islamunterricht an der Geistschule in Münster; Foto: dpa
"Es ist nicht meine Aufgabe, den Kindern beizubringen, wie man als Muslim richtig betet", sagt Bülent Senkaragoz, Islamkundelehrer an der Geistschule in Münster. "Doch Schüler lernen hier, wie wichtig Toleranz ist."

​​Auch ins Bildungssystem bringen Muslime ihre Anliegen vermehrt ein. Dabei überrascht es nicht, dass neue Schulmodelle für Muslime aus dem nicht-staatlichen Bereich kommen. Das Beispiel der Prisma-Schulen im schwäbischen Böblingen zeigt, wie sich Migranten selbst einen Rahmen für den Bildungserfolg ihrer Kinder schaffen.

"Wir wollen Partizipation, nicht Integration!"

Das geschieht auch aus Ernüchterung über das staatliche Schulangebot und erlebte eigene Diskriminierungserfahren. Ein gemeinnütziger Verein, der der Gülen-Bewegung nahesteht, hat hier zwei private Ganztagsschulen geschaffen, in denen Religion so gut wie gar nicht vorkommt. Das Gymnasium und die Realschule stehen Schülern aller Konfessionen und Religionen offen. Sie sind leistungsorientiert und pädagogisch auf dem neuesten Stand. Statt Religionsunterricht wird an den Prisma-Schulen ausschließlich Ethik angeboten.

Ismail Temel vom Trägerverein der Schule berichtete über Erfahrungen von Diskriminierung in seiner Schullaufbahn, die er seinen Kindern ersparen wolle. Außerdem wolle man etwas für Problemkinder im Stadtviertel tun und biete auch Stipendien für bedürftige Familien an. "Was wir wollen, ist nicht Integration sondern Partizipation", betonte Temel.

Doch auch die Mehrheitsgesellschaft kommt langsam in der Pluralität an. Zum Schuljahr 2012/13 soll in Osnabrück eine Drei-Religionen-Schule der katholischen Schulstiftung in der Diözese den Unterricht aufnehmen. Der Ditib-Landesverband Niedersachsen, Schura Niedersachsen (der Zusammenschluss der Moscheevereine im Bundesland), und die Jüdische Gemeinde Osnabrück haben sich mit der katholischen Kirche zusammen getan, um das Projekt zu realisieren.

In der ersten Drei-Religionen-Schule Deutschlands sollen die muslimischen Lehrerinnen Kopftuch tragen dürfen und der jüdische Theologe, der Religion unterrichtet, die Kippa. "Die Schule strahlt auf das Miteinander der Religionen in Osnabrück aus", ist sich Winfried Verburg vom Bistum Osnabrück jetzt schon sicher. Sie wird ein Beitrag für die interreligiöse Öffnung der Gesellschaft sein.

Claudia Mende

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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de