Allahs entmachtete Töchter

Der türkische Schriftsteller Nedim Gürsel beschwört in seinem neusten Roman "Allahs Töchter" den Islam seiner Kindheit und die Wiederentdeckung des osmanischen Erbes herauf. Stefan Weidner hat das Buch gelesen.

Wenn man dieses Buch gelesen hat, weiß man endlich, was man als westlicher Leser selbst in den gelungensten Romanen aus der islamischen Welt immer vermisst hat, ohne es je so recht benennen zu können: Den Einblick in die fundamentalen Vorstellungswelten, den aus Mythen und Legenden gespeisten geistigen Unterbau der Menschen, von denen wir lesen.

Dass wir so selten davon erfahren, verwundert genau besehen nicht, sind doch diese Vorstellungswelten für Autoren und Leser eine unhinterfragte Gemeinsamkeit. Es braucht einen wie Nedim Gürsel, um diesen Urgrund sichtbar zu machen.

Einerseits schreibt Gürsel als muslimisch sozialisierter Autor für ein westliches Publikum, andererseits schreibt er als Verwestlichter für die türkischen Muslime, die selber in der Regel nur ein gebrochenes, bestenfalls restauratives Verhältnis zur eigenen Tradition haben.

Versenkung in die Vergangenheit der osmanischen Kultur

1951 geboren, verbrachte Gürsel seine Kindheit in der Türkei, Jugend- und Ausbildungsjahre jedoch in Paris, wo er heute lebt und an der Sorbonne lehrt. Und fast alle seiner mittlerweile fünf Bücher auf Deutsch bezeugen, wie sich Gürsel auch deshalb in die Vergangenheit der osmanisch-islamischen Kultur versenkt, weil sie ihm keine selbstverständliche Tradition mehr ist: sei es in seinem (deutschen) Erstling über Mehmet II., den Eroberer Istanbuls, sei es in seiner Nacherzählung der anatolischen Legenden, "Sieben Derwische".

Einband des Buches 'Allahs Töchter' von Nedim Gürsel
Im Visier religiöser Eiferer: Gürsel wurde 2009 von der türkischen Religionsbehörde angezeigt. Man warf ihm damals vor, in seinem Roman "Allahs Töchter" den Islam beleidigt zu haben, er wurde jedoch von einem Istanbuler Gericht freigesprochen.

​​Ganz besonders gilt dies für "Allahs Töchter". Der Roman paart die – größtenteils autobiographische – Geschichte der Kindheit des Autors geschickt mit der Darstellung des verlorenen kollektiven Imaginationsraums. Vermessen wird dabei nichts weniger als Religion, Geschichte, Nation mitsamt der bis heute offenen Wunde, die die Entstehung der modernen Türkei hinterlassen hat.

Die Schlüsselfigur dafür in diesem Buch ist der Großvater, denn das Kind Nedim wuchs bei den Großeltern auf und kam dadurch in den Genuss einer Verschiebung im Generations- und Sozialisationsgefüge der modernen Türkei, die seine nicht mehr osmanisch geprägten Altersgenossen nicht erfahren haben und die ihn überhaupt erst zu den besonderen Blicken und Einsichten befähigt, die wir als Leser jetzt so bewundern.

Haci, Mekkapilger, wurde der Großvater genannt. In Wahrheit kam er nur bis Medina, und das als Gazi, wörtlich "Eroberer": Er war Veteran. Im Ersten Weltkrieg kämpfte er für das wankende Osmanische Reich, und Medina war die letzte Station der mit deutscher Hilfe gebauten Berlin-Bagdad-Bahn und damit ein wichtiges Angriffsziel. Wann hat man in der türkischen Literatur überhaupt je davon gelesen?

Aufarbeitung der Traumata

Gürsel gelingt es, an dieser in der Türkei wohlverdrängten Geschichte ein ganzes Bündel von Traumata aufzuarbeiten. Als frommer Muslim glaubte der Großvater den Islam gegen die europäischen Großmächte – verkörpert in Lawrence's britisch-arabischen Truppen – zu verteidigen; zugleich aber kämpfte er gegen niemand anderes als die Nachfahren des Propheten.

Gürsel referiert die Aufzeichnungen seines Großvaters, die er nur mit Hilfe eines Spezialisten für osmanische Handschrift entziffern kann. Wo die Grenze zwischen den Gedanken des Großvaters, der in Medina einen Arm verliert, und denen Gürsels zu ziehen wäre, wissen wir nicht.

Aber was wir da lesen, entspringt einem zutiefst humanen Geist, ist eine Art erzählerischer Versöhnung von Islam und Pazifismus, gerade weil die problematischen Seiten dieser Versöhnung nicht verschwiegen werden: "Wenn er 'Nicht ihr habt sie getötet, sondern Allah hat sie getötet' vor sich hinmurmelte, dann überlegte er, ob er diesen und ähnliche Verse im Koran nicht kritisch hinterfragen sollte, doch dann bereute er diese Anwandlung. Allein Allah konnte wissen, was am besten, was am richtigsten [sic] war."

Gürsels Buch ist aber noch viel mehr. Die Beschwörung der Kindheit im Schoß der Großmutter mündet in eine Nacherzählung der volkstümlichen Mythen des Islams, vor allem der Legenden über den Propheten. "Und wenn ich", schreibt Gürsel, "geklaut habe, dann habe ich aus der gemeinsamen arabischen Überlieferung geklaut, ohne auf einen falschen Weg einzubiegen."

Die "geklauten" Erzählungen entstammen der "offiziellen" Mohammed-"Biographie" (tatsächlich eher eine Sammlung von Heiligenlegenden) von Ibn Ishaq aus dem achten Jahrhundert. Nach und nach führt das Andenken an die Kindheit so zu einer Art religiöser Wiederverzauberung: Selbst der von französischer Aufklärung durchtränkte Autor kann sich dem Charme der einst aus dem Mund der Großmutter gehörten Geschichten nicht entziehen.

Viele Kuriosa, aber wenig Spannung

Die Kaaba (Foto: picture-alliance/dpa)
Die Kaaba, zentrales Heiligtum des Islam in Mekka, aus der die vorislamischen, heidnischen Göttinnen, allesamt in den "Satanischen Versen" erwähnt, durch den Islam vertrieben wurden. Diese drei Göttinnen, al-Lat, al-Uzza und Manat, spielen in Gürsels Roman "Die Töchter Allahs" eine bedeutende Rolle.

​​Für uns abendländische Leser liegt der Reiz an anderer Stelle: dass wir von diesen Legenden, die sonst nur der Spezialist kennt, überhaupt erst einmal erfahren. Sie prägen nämlich in Wahrheit das Islambild der meisten Muslime mehr als die – den meisten Muslimen nur schwer zugänglichen – Texte in Koran und Hadith.

Literarisch hat diese Nacherzählung der in der islamischen Welt weitverbreiteten Mythen freilich einen kleinen Haken: Mohammed wird von einer so penetranten Aura des Guten, Schönen, und – last but not least – Erfolgreichen umwabert, dass der Text zwar viele Kuriosa, aber wenig Spannung bietet.

Mit den titelgebenden "Töchtern Allahs", den heidnischen Göttinnen des vorislamischen Mekka, die in den berüchtigten "Satanischen Versen" erwähnt werden, setzt Gürsel einen Kontrapunkt. Aus der Perspektive der religiösen Verlierer(innen) wird noch einmal erzählt, was geschah, als der Islam die sinnenfrohe Welt der vorislamischen Heiden aus dem Tempel – der Kaaba – vertrieb.

Dass religiöse Eiferer in der Türkei wegen dieser Passagen vor Gericht zogen, wundert jedoch. Es mag Gläubigen nicht passen, dass die heidnischen Göttinnen auf einmal eine eigene Stimme bekommen. Doch im Endeffekt unterhält der Roman ein affirmatives Verhältnis zu der vom Erzähler heraufbeschworenen Religion seiner Kindheit.

Zwar kann der Glaube von Fanatikern und Nationalisten missbraucht werden – Gürsel liefert zahlreiche Beispiele dafür –, ein integraler und letztlich positiver Bestandteil der türkischen Identität, so die Kernaussage des Buchs, ist er gleichwohl.

Damit ließe sich dieser Roman in gewisser Weise sogar in die religiös-imperiale Renaissance einreihen, die die Türkei seit Erdogans Amtsantritt prägt und zu der auch die Wiederentdeckung des osmanischen Erbes zählt, von der Gürsel am Beispiel des eigenen Lebens berichtet.

Stefan Weidner

© Qantara.de 2013

Nedim Gürsel: "Allahs Töchter", Roman, Aus dem Türkischen von Barbara Yurtadas, Suhrkamp Verlag, Berlin 2012

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de