Ein politisches Erdbeben

Nach dem Mord an dem links-liberalen Oppositionellen Chokri Belaid haben sich die politischen Gräben in Tunesien weiter vertieft: Die ohnehin angeschlagene Regierung steckt in einer tiefen Krise und der Streit um eine neue Regierung aus Experten hält an. Aus Tunis berichtet Sarah Mersch.

Von Sarah Mersch

So einig stand Tunesiens Opposition schon lange nicht mehr zusammen wie nach dem Mord an Chokri Belaid. Es war ein Erdbeben, das die zersplitterte Opposition über Parteigrenzen hinweg zusammenrücken und die Wut gegen die Regierung explodieren ließ.

Hunderttausende erwiesen dem Ermordeten am vergangen Freitag (8. Februar) die letzte Ehre. Ein kilometerlanger Trauerzug wandte sich bei teils strömendem Regen durch die Straßen der Hauptstadt zum Jellaz-Friedhof, wo Belaid über den Hügeln von Tunis in einem Märtyrergrab beigesetzt wurde. Zwei Tage vorher war er mit Schüssen in Kopf und Nacken kaltblütig niedergestreckt worden, als er gerade sein Haus verließ, um ins Büro zu fahren.

Knapp eine Woche nach dem Anschlag auf den 48-jährigen Anwalt ist das politische Tunesien aus der Schockstarre erwacht und zur hektischen Betriebsamkeit zurückgekehrt, jedoch ohne klare Linie. Wohin es mit dem Mittelmeerstaat geht, das ist so ungewiss wie noch nie in den vergangenen zwei Jahren nach dem Aufstand gegen den ehemaligen Diktator Zine El Abidine Ben Ali.

Die Krise des politischen Systems

Hamadi Jebali; Foto: picture alliance/ZUMA Press
Mit dem Rücken zur Wand: Im Tauziehen um die Zusammensetzung der Regierung hatte Ministerpräsident Jebali vergangene Woche angekündigt, er werde spätestens Mitte dieser Woche eine neue Expertenregierung vorstellen. Sollte seine "Ennahda"-Partei im Parlament die Zustimmung dazu verweigern, werde er zurücktreten.

​​Noch am Tag des Mordes verkündete Premierminister Hamadi Jebali von der moderat-islamistischen "Ennahda", in den kommenden Tagen eine Regierung aus Technokraten zu bilden, die das Land bis zu den Wahlen führen sollte.

Diese Ankündigung war gleich ein doppeltes Schuldeingeständnis: Die aktuelle Regierung unter Führung seiner eigenen Partei ist gescheitert. Denn weder ist es ihr gelungen, die sozialen und wirtschaftlichen Probleme des Landes in den Griff zu kriegen, noch die neue Verfassung in der vorgesehenen Jahresfrist zu verabschieden. Auch war es dem Premier nicht gelungen, die Regierungsumbildung durchzusetzen, die er bereits seit einem halben Jahr angekündigt hatte.

"Das Problem ist nicht die Regierung, sondern die gesamte politische Klasse Tunesiens", so der Anwalt Elyes Essghaier während der Beerdigung seines Kollegen. Die Regierung müsse ihre Fehler eingestehen, genauso wie die Opposition Verantwortung übernehmen müsse und das politische Klima in der aktuellen Übergangsphase bis zu den Wahlen nicht noch weiter aufheizen dürfe.

"Solange wir keine legitimen, demokratischen Institutionen haben, keine unabhängige Justiz, die vor einer Rückkehr zu einem diktatorischen System schützt, solange ist Tunesien bedroht." Gerade die Reform der Justiz und des Sicherheitsapparats blieb bis jetzt in Tunesien auf der Strecke.

Mit dem Rücken zur Wand

Hamadi Jebali steht inzwischen nicht nur als Premierminister, sondern auch als Generalsekretär seiner Partei mit dem Rücken zur Wand. Während seine Ankündigung für eine Regierungsbildung bestehend aus Funktionären von der tunesischen Opposition und der Bevölkerung weitgehend wohlwollend aufgenommen wurde, stellt sich seine eigene Partei gegen ihn.

Demonstration von Unterstützern der Ennahda Partei am 9. Februar 2013; Foto: dpa
Gegenwind für die liberale und säkulare Opposition: Tausende Anhänger der regierenden "Ennahda"-Partei demonstrierten am vergangenen Samstag in Tunis zur Unterstützung der angeschlagenen Islamisten. Zugleich warfen sie Frankreich vor, in die innenpolitischen Probleme des Landes einzugreifen - worin die Opposition ein "reines Ablenkungsmanöver" sieht.

​​Der lange schwelende Konflikt innerhalb der "Ennahda" – d.h. zwischen moderaten Kräften und Vertretern einer extremen Linie, aber auch zwischen den Generationen und zwischen denjenigen, die ins Exil gegangen sind und den Kräften, die lange Jahre unter Ben Ali im Gefängnis saßen (zu denen auch Jebali gehört) – bringt die Partei zunehmend ins Wanken.

Der Flügel "Ennahdas", der gegen Jebalis Initiative opponiert, trat unterdessen die Flucht nach vorne an: am Wochenende demonstrierten rund 2.000 bis 3.000 seiner Anhänger in Tunis für mehr Stabilität und – um die Regierung zu unterstützen – vor allem aber gegen Frankreich. Der ehemalige Kolonialherr, so die Argumentation der Demonstranten, sei für das gegenwärtige Chaos in Tunesien verantwortlich. Dies sei nichts anderes als eine Ablenkung von den eigenen Problemen, argumentiert dagegen die Opposition.

Jebali kündigte unterdessen an, von seinem Amt als Premierminister zurückzutreten, sollte es ihm nicht gelingen, innerhalb der nächsten Tage eine neue Regierung zu bilden. Doch diese Rechnung hat er nicht nur ohne seine eigene Partei, sondern auch ohne die Juniorpartner der Koalition, die "Etakatol" und den "Kongress der Republik", gemacht. Letzterer kündigte am vergangenen Wochenende an, seine Minister zurückzuziehen, um dann zu Beginn der Woche denn Rücktritt "vorläufig auf Eis zu legen".

Wut auf "Ennahda"

Proteste vor dem tunesischen Innenministerium am Tag der Ermordung Chokri Belaids; Foto: AFP/Getty Images
Unzufrieden mit "Ennahda": "Für viele Tunesier zählt vor allem die wirtschaftliche Entwicklung des Landes sowie Gerechtigkeit und Stabilität. Doch genau das konnte die Regierung unter der Führung der "Ennahda" der Bevölkerung bislang nicht bieten", schreibt Mersch.

​​Die Wut der Bevölkerung konzentriert sich nach dem Mord an Chokri Belaid auf "Ennahda". Viele Bürger werfen ihr vor, für das Verbrechen verantwortlich zu sein, da sie mit ihrer laxen Haltung gegenüber Extremisten, auch in den eigenen Reihen, ein Klima der Gewalt geschürt zu haben.

Es ist der "Ennahda" gelungen, bereits seit den Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung im Oktober 2011 die politische Diskussion in der Öffentlichkeit vor allem auf Fragen der Identität und der Religion zu lenken. Dies fällt nun auf sie zurück, denn viele ehemalige Wähler sind enttäuscht.

"Wir haben für 'Ennahda' gestimmt, weil wir dachten, dass diese Leute gottesfürchtig sind. Doch Gott haben sie schnell vergessen, jetzt geht es ihnen nur noch um die Posten", schimpfte ein Demonstrant vor dem Innenministerium am Tag des Mordes an dem linken Oppositionellen Belaid.

Für ihn, wie für viele Tunesier, zählt vor allem die wirtschaftliche Entwicklung des Landes sowie Gerechtigkeit und Stabilität. Doch genau das konnte die Regierung unter der Führung der "Ennahda" der Bevölkerung nicht bieten – genauso wenig, wie ihre säkularen Vorgänger: die Übergangsregierung unter Beji Caid Essebsi, dessen Allianz "Nida' Tounes" in der Zwischenzeit zur zweitwichtigsten politischen Kraft in Tunesien aufgestiegen ist.

Wer wirklich für den Anschlag auf Chokri Belaid verantwortlich ist, ist nach wie vor unklar. "Dahinter steckt ein ganzer Apparat, mit einer Strategie", erklärte jüngst Jebali gegenüber der französischen Zeitung Le Monde. Dieser politische Anschlag betreffe mehr als nur die Person Chokri Belaids. "Er ist das Opfer, aber nicht das Ziel. Das Ziel ist ganz Tunesien. Wir müssen uns auf sehr schwerwiegende Ergebnisse einstellen", so der Premierminister.

Ganz ähnlich argumentiert der Anwalt Essghaier. "Wir dürfen keine verfrühten Schuldzuweisungen treffen. Das Ziel der Mörder Belaids war es, die Tunesier gegeneinander aufzuwiegeln und das Land ins Chaos zu stürzen", so Essghaier. Ob nun, wie in Tunesien spekuliert wird, Salafisten, der "Ennahdha" nahestehende Milizen dahinter stecken oder aber Kräfte des alten Regimes, die das Land destabiliseren wollen: der Mord trifft die Regierungskoalition zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt.

Dabei geht es weit weniger um Fragen der tunesischen Identität oder um einen Konflikt zwischen Islamisten und säkularen Kräften, sondern um gute Regierungsführung. Auf dem Spiel steht vielmehr Tunesiens Demokratie.

Sarah Mersch

© Qantara.de 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de