Kein Verbot, aber ein Tabu

In der Aufbruchsstimmung nach dem politischen Umbruch in Tunesien haben viele Homosexuelle gehofft, dass sich ihre Situation entscheidend verbessern würde. Doch knapp zwei Jahre später sieht die Lage nicht mehr so rosig aus wie zuvor angenommen. Aus Tunis berichtet Sarah Mersch.

Von Sarah Mersch

Houssem sitzt in einem Café auf der Hauptstraße von Tunis. Seinen richtigen Namen will er nicht nennen, denn er hat Angst vor Diskriminierung und Einschüchterungsversuchen. Mit tunesischen Medien spricht er gar nicht, denn zu oft kämen die Anfragen gar nicht von richtigen Journalisten, erzählt er. Houssem ist Student, Anfang 20 und schwul. Im Internet kämpft er für die Rechte von Homosexuellen.

"Die sozialen Medien haben uns bei der Revolution geholfen, jetzt wollen wir diese Werkzeuge auch für den Kampf für unsere Rechte nutzen", sagt Houssem. "Einige haben uns unterstützt, aber es gab auch viele negative Reaktionen." Immer wieder wurde er beschimpft und bedroht, berichtet er.

Screenshot der Website 'Gayday magazine', die sich für die Rechte von Schwulen einsetzt; Quelle: Gayday magazine
Austesten neuer Grenzen und Aufbruch zu neuen Ufern: Die nach dem Sturz Ben Alis gegründete "Gayday" erregte die Aufmerksamkeit vieler Tunesier, weil es an die Öffentlichkeit brachte, was sonst nur hinter verschlossenen Türen diskutiert wurde.

​​In der Aufbruchsstimmung nach dem 14. Januar 2011 hat Houssem mit einer Gruppe Gleichgesinnter "Gayday" gegründet - das erste Webzine für Homosexuelle in Tunesien. Was unter der Diktatur Zine El Abidine Ben Alis unmöglich erschien, rückte auf einmal in greifbare Nähe: sich frei und ohne Angst vor Zensur zu äußern. "Gayday" erregte die Aufmerksamkeit vieler Tunesier, weil es an die Öffentlichkeit brachte, was sonst nur hinter verschlossenen Türen diskutiert wurde.

Stigmatisierung von Homosexualität

Explizit verboten ist Homosexualität in Tunesien nicht. Der Artikel 230 des tunesischen Strafgesetzbuches aus dem Jahr 1964 stellt Analverkehr unter Strafe. Er wird mit drei Jahren Gefängnis geahndet. Auch wenn dieser Artikel selten angewandt wird und nicht nur homosexuelle Paare betrifft, schwebt er wie eine ständige Bedrohung über den tunesischen Schwulen.

In einer Talkshow zu "Gayday" befragt, sagte der Regierungssprecher und Minister für Menschenrechte, Samir Dilou von der islamischen Ennahdha-Partei, auch die Meinungsfreiheit habe ihre Grenzen. "Natürlich sind das auch Bürger, aber es gibt eine rote Linie, und das sind unsere Sitten, unsere Geschichte und Kultur." Wer krank sei, müsse sich behandeln lassen, so Dilou auf Nachfrage des sichtlich konsternierten Moderators. "Das war eine politisch korrekte Form der Beleidigung", grinst Houssem bitter. Schließlich habe Dilou ja nie gesagt, Homosexuelle seien krank.

Sanfte Aufklärung statt "Gaypride"

Auch wenn sich nach dem Aufstand von Januar 2011 unzählige neue Organisationen der Zivilgesellschaft gegründet haben, so gibt es keine, die sich speziell um die Rechte Homosexueller kümmert. Nur der "Tunesische Verband zur Unterstützung von Minderheiten" positioniert sich deutlich. Die Präsidentin Yamina Thabet fordert, die Diskriminierung von Minderheiten unter Strafe zu stellen.

"Ich träume davon, dass eines Tages ein tunesischer Homosexueller erhobenen Hauptes auf der Straße gehen kann, dass er stolz auf sich ist, und dass er das Recht hat, in die nächste Polizeiwache zu gehen und Anzeige zu erstatten, wenn er diskriminiert wird", sagt Thabet.

Houssem, ein tunesischer Aktivist für die Rechte von Homosexuellen, möchte aus Angst vor Diskriminierung sein Gesicht nicht zeigen; Foto: Sarah Mersch
Kein "Gaypride" auf der Hauptstraße: Viele Homosexuelle in Tunesien trauen sich nicht, mit ihrer Familie oder ihren Freunden über ihre Neigung zu sprechen, denn Homophobie ist weit verbreitet in der tunesischen Gesellschaft.

​​Am wichtigsten sei es, findet Houssem von "Gayday", zunächst die Homosexuellen selbst über ihre Rechte aufzuklären, und die Gesellschaft zu sensibilisieren. Das Problem, so glaubt er, liegt vor allem darin, dass die Leute zu wenig über Schwule und Lesben wissen. Die Religion und das Erstarken des Islamismus sei nicht der Kern des Problems, findet er. Der Islam biete allenfalls einen guten Vorwand, Homophobie zu rechtfertigen.

Seine Taktik: langsam aber kontinuierlich arbeiten, um so die homophobe Mentalität vieler Tunesier zu ändern. "Wir werden nicht gleich mit einer Gaypride auf der Hauptstraße anfangen, das wäre doch ziemlich daneben und würde der Sache eher schaden", lacht er.

Aber es käme jetzt darauf an, in der Gemeinschaft selbst und bei potentiellen Unterstützern ein Bewusstsein für die Rechte von Homosexuellen zu schaffen. Houssem hat sich bis jetzt nicht getraut, Familie und Freunden zu sagen, dass er homosexuell ist. Er hat Angst, dass ein Outing sein Leben völlig durcheinander bringen würde.

"Vielleicht sage ich es ihnen eines Tages, wenn ich finanziell unabhängig bin und ein Dach über dem Kopf habe. Es ist hart, jeden Tag aufzuwachen und nicht ich selbst sein zu können."

Sarah Mersch

© Deutsche Welle 2012

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de