Rapperin statt Ehefrau: Preisgekrönte Dokumentation über den Traum einer jungen Afghanin

Künstler in Afghanistan leben gefährlich - weibliche erst recht. Sonita kämpft darum, dennoch als Rapperin arbeiten zu können. Eine Dokumentation begleitet den Weg der jungen Frau. Von Arne Koltermann

Die Afghanin Sonita ist 18 Jahre alt. Ihre Eltern sind Michael Jackson und Rihanna - oder wenigstens ihre geistigen Verwandten. Sonita ist in die iranische Hauptstadt Teheran geflohen. Mit einigen Geschwistern lebt sie in einer schäbigen engen Wohnung. Die Wände sind verdreckt, kaum Licht dringt herein, und dann kommt auch noch der Vermieter und will sie vertreiben.

Wenigstens in der Mädchenschule einer Hilfsorganisation fühlt sich Sonita zuhause. Ihren begeisterten Klassenkameradinnen rappt sie ihre erstaunlich reifen, sozialkritischen Lieder vor. Das selbstbewusste hübsche Mädchen träumt von einer großen Karriere, doch die Familie hat andere Pläne: Sonita soll bald verkauft werden, für einige tausend Dollar, an einen Mann, den sie nicht kennt. Damit ihr Bruder sich seinerseits eine Braut kaufen kann. Warum? War schon immer so. Ihre Mutter ist einst auch verkauft worden. «Du wurdest damals doch auch gezwungen», hält die Tochter ihr bei einem Besuch vor. - «Darum geht es nicht.»

Rokhsareh Ghaem Maghami zeigt in ihrem vielschichtigen Dokumentarfilm, wie Mütter zu Komplizinnen einer unbarmherzigen Tradition werden - obwohl sie selbst Opfer dieses Systems sind. Die Mutter drängt Sonita zur Rückkehr, doch die denkt gar nicht daran. Vielen afghanischen Teenager-Mädchen würde es reichen, zur Schule gehen zu können und nicht wie ein Nutztier verkauft zu werden. Sonita möchte tun, was ihr gefällt, was sie gut kann. Aber auch im Iran dürfen Frauen nicht in der Öffentlichkeit singen.

Das macht die Suche nach einem Produzenten für ein Musikvideo mühsam. Nach jedem vergeblichen Vorsprechen sieht der Zuschauer Sonita auf dem Rücksitz eines Autos - enttäuscht, aber nicht entmutigt. Schließlich erklärt sich einer bereit, mit ihr zu drehen.

Sonita kleidet sich für den Clip als Zwangsverheiratete, unter dem Schleier des weißen Hochzeitskleids entblößt sie ihre blauen Flecken, ihren von Tränen verwischten Lidschatten. Die Versehrungen hat sie gestellt, doch das Bild wirkt einprägsam - zu realistisch erscheint die Vorstellung.

Die junge Frau stellt das Video auf Youtube, erhält viele Klicks; ihre Familie ist gespalten. Während jüngere Geschwister Textstellen zitieren, erscheinen Mutter und Brüder wenig begeistert. Doch ihre Ablehnung, ihre Drohungen äußern sie nur hinter der Kamera.

Sonita bittet Regisseurin Maghami um Geld, um von der Mutter einen Aufschub zu bekommen. Doch wie verträgt sich der dokumentarische Anspruch mit einem solchen Eingriff in die Realität? Ihr Kameramann rät ab, doch Maghami leiht Sonita am Ende das Geld - und wirklich Übel nehmen kann ihr der Zuschauer das nicht.

Eine amerikanische Schule erfährt von Sonitas Fall und stellt ihr ein Stipendium in Aussicht. Doch für ein Visum braucht sie einen Pass. Mit dem Bus fährt sie dafür nach Kabul, durch die Scheiben sieht man Bergketten von staubiger Schönheit.

Im Hotel muss Sonita bewaffnete Wachposten passieren, im Zimmer verfolgt sie die Fernsehnachrichten. Ein Anschlag auf ein Theater: mehrere Tote und Verletzte. Künstler leben gefährlich in Afghanistan. Künstlerinnen leben noch viel gefährlicher. Und dass Sonita rappt - sie spricht das Wort mit leicht gerolltem R - macht die Sache auch nicht leichter. Ein Grund mehr, hier rauszukommen.

«Sonita» gewann auf dem Dok.Fest in München den «Preis der SOS-Kinderdörfer weltweit». Seine unermüdliche Hauptfigur schenkt dem Film viele hoffnungsvolle Momente. Doch es ist auch ein unglaublich trauriges Werk über eine Gesellschaft, in der Menschenhandel Tradition hat. «Sonita» warnt davor, vor lauter westlichem Selbstekel menschenfeindliche Praktiken als kulturelle Eigenheiten zu romantisieren. (KNA)

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