Wegen Beleidigung des Islams vor dem Kadi

In Istanbul hat der Prozess gegen den international gefeierten türkischen Pianisten und Komponisten Fazil Say begonnen. Die Anklage wirft ihm vor, via Twitter islamfeindliche Kommentare verbreitet zu haben. Nach Ansicht von Kritikern zeigt sein Fall die Defizite der Türkei in Sachen Meinungsfreiheit. Von Thomas Seibert

Von Thomas Seibert

Im vergangenen April hatte Say über den Kurznachrichtendienst Twitter mehrere Kommentare verbreitet, in denen er sich über den Islam lustig machte. So stellte er die Frage, warum ein bestimmter Gebetsruf eines Muezzin nur 22 Sekunden dauerte und ob der Gebetsrufer möglicherweise schnell zur Geliebten oder zur Schnapsflasche eilen wolle.

Mit Blick auf die islamische Vorstellung vom Paradies als einem Ort, an dem der Wein in Strömen fließt und an dem Jungfrauen auf die Gläubigen warten, fragte Say zudem, ob der Himmel eine Kneipe oder ein Bordell sei.

Nachdem ein Bürger gegen Say eine Strafanzeige eingereicht hatte, nahm die Staatsanwaltschaft in Istanbul ihre Ermittlungen auf und erhob Anfang Juni Anklage gegen den 42-jährigen Pianisten und Komponisten. Der Vorwurf lautete: Beleidigung religiöser Werte.

Die Staatsanwaltschaft forderte anderthalb Jahre Haft. Selbst wenn das Gericht dem Antrag folgen sollte, müsste Say aller Wahrscheinlichkeit nach nicht ins Gefängnis, weil in der Türkei alle Strafen unter zwei Jahren normalerweise auf Bewährung ausgesetzt werden. Doch er wäre vorbestraft – wegen einer Meinungsäußerung.

Bekannter Kritiker der Erdogan-Regierung

Nun ist Say nicht irgendein Musiker. Er ist der wichtigste klassische Komponist der heutigen Türkei und ein international gefeierter Konzertpianist. Say ist aber auch ein scharfer Kritiker der konservativ-religiös orientierten Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Der bekennende Atheist Say betrachtet die frommen Muslime in der Regierung als Katastrophe für die Türkei und hat schon häufiger laut über eine Auswanderung nachgedacht.

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan; Foto: Reuters
Der Erdogan-Regierung ein Dorn im Auge: Fazil Say, ein bekennender Atheist und Gegner der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP, hatte in den vergangenen Jahren mehrmals mit kontroversen öffentlichen Äußerungen auf sich aufmerksam gemacht.

​​Dem Musiker, der acht Jahre lang in Düsseldorf und Berlin studierte und der in der ganzen Welt Konzerte gegeben hat, sind auch die konservativen Wähler Erdogans in Anatolien höchst suspekt. Vor einigen Jahren sorgte Say für öffentliche Empörung, indem er die bei vielen Türken sehr beliebte Arabesk-Musik als Ausdruck eines "Proletentums" geißelte, für das er sich schäme.

Mit Unterstützung der Regierung in seinem Rechtsstreit kann Say deshalb nicht rechnen. Dagegen kann er sich über eine Welle der Solidarität aus intellektuellen Kreisen freuen. Eine Unterstützeraktion für Say im Internet wurde bisher von fast 8.000 Teilnehmern unterzeichnet.

Imageschaden für die Türkei

Die Vorwürfe selbst wies Say zurück. Er habe lediglich Kommentare anderer Twitter-Nutzer als "Re-Tweet" weitergeleitet – angeklagt worden sei aber nur er. Selbst Kommentatoren, die Say sonst eher kritisch gegenüber stehen, halten das Gerichtsverfahren für einen Skandal. Die Anklage werde zudem dem internationalen Image der Türkei schaden, lautet eine Sorge.

Dieser potenzielle Imageschaden droht zu einer Zeit, in der sich die Türkei ohnehin wachsender Kritik ausgesetzt sieht. Erst in der vergangenen Woche äußerte die EU in ihrem jüngsten Fortschrittsbericht ihre "ernste Sorge" angesichts zunehmender Einschränkung der Meinungsfreiheit. Die Regierung in Ankara wies die Kritik zurück.

Fest steht jedoch, dass Richter und Staatsanwälte in der Türkei bestehende Gesetze nach wie vor sehr restriktiv auslegen. Sie ordnen das Recht auf freie Meinungsäußerung häufig dem Staatsschutzgedanken und der Bestrafung mutmaßlicher verbaler Angriffe auf den gesellschaftlichen Frieden unter. Ob das im Fall Fazil Say anders sein wird, bleibt abzuwarten.

Thomas Seibert

© Deutsche Welle 2012

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de