Weltkrieg der Instinkte

Weit schlimmer und erschreckender als das anti-islamische Schmähvideo sind die Reaktionen auf ihn, die wir in arabischen und muslimischen Städten sehen, und wie der Extremismus dort jeden Anstand und jedes zivilisierte Verhalten zerstört, meint der Medienwissenschaftler Khaled Hroub.

Von Khaled Hroub

Wie weit ist es gekommen mit einer Glaubensgemeinschaft, in deren Koran es heißt: "Niemand trägt die Schuld an den Taten anderer"? Woher kommt dieser Extremismus, diese Demagogie, mit der man auf einen solch dämlichen Film mit dem Titel "Die Unschuld der Muslime" reagiert? Mit derartigen Reaktionen in der arabischen Welt wird nichts verteidigt, sondern nur Schaden angerichtet. Sie zerstören unsere Gesellschaften und werfen sie zurück in Primitivismus und Unterentwicklung.

Was können libanesische Betreiber von Kentucky Fried- oder McDonalds-Restaurants in Tripoli für diesen Film, so dass aufgebrachte Menschen deren Besitz zerstören? Was haben Kolumbianer, die als Teil der internationalen Schutztruppe auf dem Sinai stationiert sind, zu dem Video beigetragen, so dass Wüstenbewohner kollektiv auf sie losgehen? Und was haben die Botschaften Deutschlands und Italiens in Khartum mit dem Film zu schaffen, so dass "wütende Massen" sie attackieren?

Wer trägt die Schuld?

Welche Schuld tragen Autobesitzer, deren Fahrzeuge zertrümmert werden, weil sie unglücklicherweise dicht bei der US-amerikanischen Botschaft in Tunis parkten? Und wer trägt die Verantwortung für diejenigen, die während der Überfälle auf westliche Botschaften getötet oder verwundet wurden?

Brennendes KFC-Fast-Food-Restaurant in Tripoli; Foto: AP
Blinder Hass: "Was können libanesische Betreiber von Kentucky Fried- oder McDonalds-Restaurants in Tripoli für diesen Film, so dass aufgebrachte Menschen deren Besitz zerstören?", fragt Khaled Hroub.

​​Zum Schluss sei auch noch nach der Schuld des US-Botschafters und seiner Mitarbeiter gefragt, die in Bengasi ermordet wurden und die von diesem Video noch nicht einmal gehört hatten. Sie hatten die Libyer gegen einen Tyrannen unterstützt, der ihr Land über vier Jahrzehnte lang unterjocht hatte.

Das Schlimme, was wir dieser Tage erleben, ist nicht der alberne Film und dessen beleidigender Inhalt. Soweit es an den Ausschnitten erkennbar ist, die im Internet zu sehen sind, handelt es sich hier um ein Machwerk, das inhaltlich und ästhetisch so erbärmlich ist, dass das einzige amerikanische Kino, in dem der Film im Sommer aufgeführt wurde, ihn nach der ersten oder zweiten Vorstellung absetzte. Es geht hier nicht um ein komplexes Werk, das Schmähung intelligent verpackt und das zum Nachdenken und zur Reaktion anregt. Hier ist die Beschimpfung so niveaulos, dass die einzige Reaktion darin bestehen kann, den Film selbstbewusst zu ignorieren.

Weit schlimmer und erschreckender als der Film sind dagegen die Reaktionen auf ihn, die wir in arabischen und muslimischen Städten sehen, und wie der Extremismus dort jeden Anstand und jedes zivilisierte Verhalten zerstört. Wir erleben eine Kultur des religiösen Fanatismus, der sich über ein halbes Jahrhundert lang in die Köpfe der Menschen gefressen hat.

Dialog und Debatte als wirksamste Mittel

Es ist auffällig, wie jede Vernunft, jedes Nachdenken und jedes Selbstvertrauen abhanden gekommen sind und stattdessen Instinkten freier Lauf gelassen wird. Der Koran sagt an einer Stelle: "Die meisten Menschen glauben nicht, wie sehr du es auch wünschst." Und erst recht sind die meisten Menschen auf der Welt keine Muslime. Daher halten sie auch Religionen und Propheten nicht für heilig, und wir können ihnen diesen Respekt auch nicht aufzwingen. Das einzig wirksame Mittel ist noch immer Dialog und Debatte. Aber das funktioniert nur mit Selbstvertrauen.

Wenn jedoch Millionen nur wegen einer dummen Beleidigung die Fassung verlieren, dann beweist das nur, dass sie nicht einmal jene Werte selbstbewusst vertreten können, die zu verteidigen sie vorgeben. Sie unterstellen, dass diese Werte durch eine leichtsinnige Beleidigung hier oder einen Kritiker dort in ihrer Existenz bedroht seien.

Man mag einwerfen, der Westen sei heuchlerisch, weil er eine Herabsetzung von Muslimen zulasse, eine Beleidigung von Juden und Israels aber nicht. Das mag sein, aber darum geht es mir nicht. Ich verteidige hier nicht die Politik des Westens, sondern ich spreche über uns und die Katastrophen, die sich in unseren Gesellschaften abspielen.

Demonstranten vor der deutschen Botschaft in Khartum; Foto: Getty Images
"Masseninstinkt und Herdentrieb schalten den Verstand aus": Am vergangenen Freitag (14.9.) war auch die deutsche Botschaft in der sudanesischen Hauptstadt Khartum von einem aufgewiegelten Mob angegriffen und zum Teil in Brand gesteckt worden.

​​Wir haben jeden Maßstab verloren. Wie sonst kann es sein, dass der niederträchtige Regisseur eines schlechten Films Zehntausende Demonstranten auf die Straße zieht, während nicht einmal Hunderte für ihre Brüder in Syrien demonstrieren, die täglich zu Hunderten umgebracht werden? Noch weniger demonstrieren für Jerusalem oder für Gaza.

Masseninstinkt und Herdentrieb

Masseninstinkt und Herdentrieb schalten den Verstand aus. Von dem erwähnten Film hätte möglicherweise nie jemand erfahren und er wäre in der Versenkung verschwunden, wenn ihn niemand beachtet hätte, und damit hätte man seinen Zweck vereitelt – nämlich dem Islam und den Muslimen möglichst schwer zu schaden. Passiert ist das Gegenteil: Der Film ist in die Ewigkeit eingegangen; Millionen Menschen versuchen jetzt, im Internet wenigstens einen Teil davon zu sehen.

Das Problem ist, dass sich solche Szenen jedes Jahr wiederholen und niemand etwas daraus lernt. Das Anfachen niederer Instinkte begann mit der Fatwa gegen Salman Rushdies "Satanische Verse" in den 1980er Jahren. Khomeini wollte der Imam aller Gläubigen sein und inszenierte sich daher als ein Verteidiger des Islams – wodurch er einen durchschnittlichen Schriftsteller berühmt und sein Buch zu einem Weltbestseller machte.

Wir erlebten den "Weltkrieg der Instinkte" erneut, als vor einigen Jahren die dänischen Karikaturen Furore machten. Ein einziger Zeichner trieb mit ein paar rassistischen Karikaturen Millionen Muslime auf die Straßen, in vielen Städten der muslimischen Welt kamen Menschen zu Tode, Eigentum wurde zerstört. Wieder wurde ein unbekannter Zeichner zu einem weltbekannten Helden, und seine Karikaturen fanden weltweite Verbreitung.

Die Liste der Beispiele ließe sich noch lange weiterführen. Sie alle sind traurig und abstoßend. Das Besorgniserregende und Gefährliche daran aber ist, wie die fortschreitende Radikalisierung unsere eigenen Gesellschaften bedroht. Die Wahlergebnisse seit Beginn des Arabischen Frühlings scheinen diese Tendenz noch zu beschleunigen, und es obläge den Klügeren unter den Meinungsführern dieser Länder, den religiösen Extremismus als einen Feind zu betrachten, der viel gefährlicher ist als alle Feinde im Ausland.

Der Mob, der dieser Tage durch die Straßen zieht, ist bereit, alles zu zerstören, was sich ihm als Ziel bietet. Möglicherweise ist er auch bereit, zu töten. Die Denkstruktur dieser Massen beruht auf dem Ausschluss anderer, auf ihrer Nichtanerkennung und dem Wunsch, sie loszuwerden – und dies in Ländern, die ihrerseits selbst multireligiös und multiethnisch sind.

Extremismus und Masseninstinkt richten sich aber gegen die eigene Gruppe, auch wenn diese glaubt, gegen einen Widersacher vorzugehen. Der Letztere wird obsiegen, wenn die eigene Gesellschaft sich zugrunde gerichtet haben wird.

Khaled Hroub

Aus dem Arabischen von Günther Orth

© Qantara.de 2012

Der Publizist und Medienwissenschaftler Khaled Hroub ist Direktor des "Cambridge Arab Media Project" an der Universität Cambridge. Zuletzt erschien sein Buch "Hamas. Die islamische Bewegung in Palästina" 2008 im Heidelberger Palmyra-Verlag.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de