Ist die Arabellion im Zweistromland angekommen?

Die irakische Regierung befindet sich in Auflösung: Der Präsident des Landes weilt wegen einer schweren Erkrankung in Deutschland, Parlament und Zentralregierung gelten als handlungsunfähig und die Proteste gegen Ministerpräsident Nuri al-Maliki mehren sich. Aus Bagdad informiert Birgit Svensson.

Von Birgit Svensson

Vor einem Jahr haben die letzten US-Soldaten den Irak verlassen, sieht man von den Truppen ab, die die weltgrößte US-Botschaft in der Hauptstadt Bagdad bewachen. Seitdem der letzte GI das Tor nach Kuwait zugemacht und dorthin auf die US-Militärbasis entschwunden ist, haben die Spannungen im Zweistromland kontinuierlich zugenommen. Nur wenige Stunden nach dem Abzug brach die Regierungskoalition in Bagdad zusammen und fiel bis heute in eine Dauerkrise.

Auch die volle Souveränitätsbekundung, die genau vor einem Jahr Premier Maliki in einer Fernsehansprache beschwor und die Iraker zur Einheit aufrief, konnte daran nichts ändern. Das Land blieb gespalten. Für die millionenweise verschickten SMS mit guten Neujahrswünschen, unterschrieben mit "Euer Bruder Nuri al-Maliki" erntete er nur Hohn und Spott.

Iraks Präsident Dschalal Talabani; Foto: Reuters
Im politischen Abseits: Der 79-jährige irakische Präsident Dschalal Talabani hatte im Dezember einen Schlaganfall erlitten und wurde zur medizinischen Behandlung in die Berliner Klinik Charité gebracht.

​​Die Iraker wussten schon damals, dass er das Land nicht einen, sondern eher noch mehr spalten werde. Terrorgruppen wie Al-Qaida nutzen die instabile Lage aus und verüben weiterhin vermehrt Anschläge.

"Wir haben genug!"

Es ist die Abu Hanifa Moschee im Bagdader Bezirk Adamiya, die in den Fokus der Proteste gerückt ist. Nach den Freitagsgebeten in dem für Sunniten wichtigsten Gotteshaus Iraks ruft die Menge laut: "Raus mit Iran! Raus mit Maliki! Wir haben genug!"

Und so als ob der Ruf über das Gebetshaus hinaushallte, gehen seit Wochen Tausende Iraker auf die Straße. Vor allem in der mehrheitlich von Sunniten bewohnten Provinz Anbar, die im Nordwesten an Bagdad grenzt.

In Ramadi, der einstigen Hochburg des Widerstands gegen die amerikanische Besatzung, demonstrieren nun immer mehr Menschen gegen ihren schiitischen Premier Nuri al-Maliki und die Regierung. Zehntausende kommen dort jeden Freitag zusammen, schwenken Fahnen aus der Ära Saddam Husseins, als noch die drei grünen Sterne des Panarabismus das Nationalbanner zierten.

Proteste von Sunniten in Ramadi; Foto: Reuters
Kraftprobe mit der Zentralregierung in Bagdad: Genau wie in Ramadi fanden Anfang Januar auch in Tikrit, Samarra, Mossul und Kirkuk große Protestveranstaltungen gegen den irakischen Regierungschef al-Maliki und für politische Reformen statt. Die Kundgebungen standen unter dem Motto "Freitag der Standfestigkeit".

​​Nach dem Sturz des Diktators hatte das erste frei gewählte Parlament in zähen Debatten entschieden, zwar die Fahne der Saddam-Ära zu belassen, aber die Sterne als eindeutigen Hinweis auf die verhasste Baath-Partei zu entfernen. In Ramadi und auch in anderen sunnitisch geprägten Teilen des Landes erleben sie gerade eine Renaissance.

Politisches Komplott gegen Maliki?

Begonnen haben die Demonstrationen gegen den Machthaber in Bagdad Ende Dezember, unmittelbar nach der Verhaftung der Leibwächter von Finanzminister Rafa al-Issawi, der gleichzeitig auch einer der Stellvertreter Malikis war. Issawi ist nach Vize-Präsident Tarek al-Hashemi der hochrangigste sunnitische Politiker in der Regierung.

Ihm widerfährt nun das, was vor zwei Jahren Hashemi zuteil wurde. Auch seine Leibwächter wurden verhaftet. Ihnen und ihrem Chef werden Verwicklungen in terroristische Aktivitäten vorgeworfen. Hashemi soll Todesschwadronen unterhalten und befehligt, einen Komplott gegen Maliki geplant haben. Hashemi wies die Anschuldigungen zurück, floh zunächst in die autonomen Kurdengebiete und siedelte schließlich in die Türkei über. In Abwesenheit wurde er von einem Gericht in Bagdad zum Tode verurteilt.

Beobachter gehen davon aus, dass Finanzminister Issawi das gleiche Schicksal widerfahren könnte. Maliki wolle mit allen Mitteln seine Machtposition festigen. Die Sunniten klagen ohnehin darüber, dass sie im schiitisch regierten Irak Nachteile auf dem Arbeitsmarkt hätten, dass Gesetze zu ihren Ungunsten angewandt werden und Premier Malikis Regierung unter der Herrschaft Irans stünde. Jetzt machen sie ihrem Ärger darüber Luft. Sie fordern ein Ende der Diskriminierung.

Der Widerstand der Kurden

Doch nicht nur die Sunniten protestieren gegen Maliki. Auch die Kurden begehren gegen ihn auf. Seit nahezu drei Monaten stehen sich zentralirakische Armee-Einheiten unter dem Kommando Malikis und kurdische Truppen der Regionalregierung Irak-Kurdistans vor Kirkuk gegenüber. Es droht ein bewaffneter Konflikt. Hintergrund ist ein Gebietsstreit, der sich vor allem um die Ölstadt Kirkuk dreht.

Kurdenpräsident Massud Barzani nennt Maliki einen "neuen Diktator" und will mit seinen Peschmerga nicht weichen, bevor Maliki nicht auch seine Soldaten der Tigris-Division abzieht, einer Spezialeinheit zur Verteidigung der so genannten "umstrittenen Gebiete". Bislang ist noch keiner der beiden Männer auch nur einen Meter zurückgewichen.

Massud Barzani; Foto: dapd
Aufstand gegen den "neuen Diktator": Kurdenpräsident Massud Barzani will im Konflikt mit Nuri al-Maliki mit seinen Peschmerga nicht weichen, bevor der Ministerpräsident nicht auch seine Soldaten der Tigris-Division abzieht.

​​Die kurdischen Parteien, die lange an der Koalition einer Einheitsregierung mit Maliki festhielten, stehen ebenfalls auf Konfrontationskurs mit dem schiitischen Regierungschef. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sieht daher den Irak am Rande eines neuen Bürgerkrieges. Maliki hat auf diese Aussage hin sofort seinen Amtskollegen in Ankara zurechtgewiesen und ihn aufgefordert, sich auf die Probleme seines eigenen Landes zu konzentrieren und von einer Einmischung in die Politik der Nachbarländer abzusehen.

Im Clinch mit allen politischen Akteuren

"Maliki hat es sich mittlerweile mit allen verdorben", kommentiert der Herausgeber und Chefredakteur der irakischen Tageszeitung Al-Sabbah al-Jadeed, Ismael Zayer, die jetzige Situation im Irak. Die Kritik am Regierungschef schweißt Aktivisten aus verschiedenen politischen Lagern zusammen. Auch schiitische Geistliche aus der Stadt Nadjaf haben sich solidarisch mit den Protestierenden gezeigt. Und Anhänger von Schiitenprediger Moktada al-Sadr, dessen Partei mit Maliki in der Regierung koaliert, gingen ebenfalls gegen den Premier auf die Straße. Ist die Arabellion nun im Irak angekommen?

Bis jetzt sind die Demonstrationen fast ausschließlich politisch motiviert und von Parteien organisiert, die auf der Klaviatur der Ethnien und Religionen spielen. Nach den bitteren Erfahrungen der Jahre 2006/07 und den blutigen Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten verweigert der Normalbürger ihnen jedoch die Gefolgschaft.

Der Protest wird also nicht von einer breiten Bevölkerungsschicht getragen. So ist der Konflikt um Kirkuk ein Streit zwischen Politikern in Erbil und der Zentralregierung in Bagdad. Umfragen in Irak-Kurdistan zeigen, dass die Einwohner dort mehrheitlich nichts mit der Sache zu tun haben wollen und den Zwist mit Bagdad nicht für gut heißen.

Mit den Demonstrationen in Anbar haben die sunnitischen Stämme dort ihren Pakt mit der Regierung Maliki aufgekündigt, den die Amerikaner zur Bekämpfung des Terrors durch Al-Qaida geschlossen hatten. Die Sahwa-Allianz oder die "Söhne Iraks", wie die US-Truppen die sunnitischen Verbündeten im Anti-Terror-Kampf nannten, existiert nicht mehr. Grund: Maliki weigert sich, die finanziellen Zuwendungen weiterhin zu entrichten. Auch die politische Partizipation, die den Stämmen durch ihr Engagement versprochen wurde, ist nicht eingehalten worden.

Ob der Unmut von Sunniten und Kurden weiter um sich greifen wird und nicht nur regional beschränkt bleibt, werden die nächsten Wochen zeigen. Erst dann kann tatsächlich von einer Arabellion im Irak gesprochen werden. Diverse Versuche, Premier Maliki durch ein Misstrauensvotum im Parlament zu stürzen, sind jedenfalls seit dem Abzug der US-Truppen immer wieder an den erforderlichen Mehrheiten gescheitert.

Birgit Svensson

© Qantara.de 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de