Demokratie unter erschwerten Bedingungen

In Palästina hat die Frustration mit den alteingesessenen Parteien einen Höhepunkt erreicht. Israel untersagt den Palästinensern in Ost-Jerusalem die Abhaltung von Wahlen. Doch bei den jüngsten Wahlen in der Westbank zeigt sich, dass der Glaube an demokratische Wahlverfahren und der Wunsch nach Mitbestimmung ungebrochen ist. Von René Wildangel

Am 20. Oktober 2012 fanden in der Westbank erstmals seit sieben Jahren Kommunalwahlen statt. Damit wurde auch zum ersten Mal überhaupt seit der Parlamentswahl von 2006 wieder gewählt. Die Wahl von 2006 war für die Palästinenser eine bittere Erfahrung. Beobachter aus der EU und den USA waren sich zwar einig, dass die Wahl frei und fair war; aber anstatt die unliebsame Bewegung an ihrer Regierungsarbeit zu messen, verweigerte das Nahostquartett die Anerkennung, so dass die Hamas in der Folge faktisch politisch boykottiert wurde. Mittlerweile sind sich zwar viele in der EU einig, dass die Entscheidung, den Hamas-Sieg nicht anzuerkennen, falsch war. Aber die in jeder Hinsicht kontraproduktiven Folgen wirken bis heute nach.

Der internationale Boykott gegen die Hamas-Regierung hat zumindest zum Beginn der erbitterten Fehde zwischen Fatah und Hamas beigetragen, die 2007 in offener Gewalt mündete. Hamas übernahm den Gazastreifen, die Fatah kontrolliert seither die Westbank, de facto gibt es zwei Regierungen. Im Rahmen eines Versöhnungsprozesses gab es zwar mehrere Absichtserklärungen und Abkommen, aber keine realen Fortschritte. Sämtliche Amtszeiten aller gewählten palästinensischen Organe sind mittlerweile abgelaufen. Präsident Abbas ist seit Januar 2009 ohne Mandat der Wähler. Die Hamas erkennt deshalb offiziell Aziz Dweik als Präsidenten an, der 2006 zum Präsidenten des Legislativrates gewählt wurde. Aber der tritt seinerseits seit 2007 nicht mehr zusammen, mehrere Parlamentarier sind noch immer in Haft, und im Januar 2010 lief die Legislaturperiode endgültig ab.

Hohe Wahlbeteiligung

Politische Legitimität ist Mangelware in Palästina. Dass die Lokalwahlen daran nichts ändern können, war klar. Sie waren mehrmals verschoben worden, um die erstmalige Durchführung seit 2004 und 2005 in Westbank und Gazastreifen einvernehmlich zu ermöglichen. Aufgrund fehlender Fortschritte im Versöhnungsprozess verfügte Präsident Abbas schließlich die einseitige Durchführung in der Westbank, zum Ärger der Hamas, die ihren Boykott erklärte.

Wahllokal in der Westbank; Foto: René Wildangel
"Dass sich die Palästinenserinnen und Palästinenser an den Wahlen beteiligt haben, zeigt nicht weniger als ihren Willen nach Selbstbestimmung und ist ein Indikator für die Suche nach politischen Alternativen", meint René Wildangel.

​​So waren die Widerstände und Hindernisse bei den Kommunalwahlen groß: Im Gazastreifen verweigerte die Hamas den Urnengang. In Jerusalem untersagt Israel den Palästinensern die Abhaltung von Wahlen. In der Westbank gab es nur in 93 von 350 Wahlkreisen echten Wettbewerb; in 181 stand nur eine einzige Liste zur Wahl, in 78 fand gar keine Wahl statt. Nicht wenige Palästinenser wollten unter diesen Bedingungen nicht ihre Stimme abgeben. "Diese Wahlen sind ein Witz", sagt ein Gesprächspartner in Ramallah. "Wir leben unter Besatzung, und einige Leute hier tun so, als seien diese Wahlen von nationaler Bedeutung. Dabei vergrößern sie nur die Spaltung."

Aber mit 54,8% in der gesamten Westbank war die Wahlbeteiligung – angesichts der zahlreichen Widerstände – dann doch recht hoch. Zum Vergleich: Bei den Kommunalwahlen im größten deutschen Bundesland NRW gingen 2009 mit 52,3% weniger Menschen an die Wahlurne. Die relativ hohe Beteiligung lässt vermuten, dass auch einige Wähler, die der Hamas nahestehen, trotz offiziellen Boykotts zur Wahl gingen, um sich zu beteiligen. Immerhin standen bei der Wahl nicht nur die traditionellen Parteien zur Wahl, sondern auch mehrere Listen mit unabhängigen Kandidaten. Die Frustration vieler Menschen über die regierende Fatah drückte sich dann auch in deren desolatem Abschneiden aus. Eine Vielzahl an Sitzen ging besonders in den Großstädten verloren an Wahlbündnisse von Unabhängigen, aber auch abtrünnigen Fatah-Mitgliedern. Die Fatah konnte so insgesamt nicht einmal die Hälfte aller Mandate gewinnen – trotz Boykotts der Hamas.

In Hebron, traditionell konservative Hochburg, war die Wahlbeteiligung entsprechend niedrig. Dafür trat eine reine Frauenliste an. "Wir waren hier komplett auf uns allein gestellt", sagen einige der Parteiaktivistinnen. "Wir hatten keine finanzielle, keine institutionelle Unterstützung. Aber wir wollen etwas ändern, egal wie schwer das ist." Viele Wähler konnten sie zwar nicht überzeugen, aber der Wille nach Veränderung ist spürbar.

Tradition der Mitbestimmung

Am Wahltag hörte man viele, die trotz der internen Spaltung und der anhaltenden Besatzung die Abhaltung der Wahlen befürworten. "Wahlen sind ein wichtiges Grundrecht und gehören zur politischen Kultur. Wenn wir das nicht beibehalten, wenn wir nicht darauf drängen, dann wird es auch keine Präsidentschafts- und Parlamentswahlen geben", sagt ein älterer Herr in Ramallah.

Wahlplakate an einer Hauswand in den palästinensischen Gebieten; Foto: René Wildangel
Die Widerstände und Hindernisse bei den Kommunalwahlen waren groß: Die Hamas rief zum Boykott der Wahl auf und verweigerte den Urnengang. Trotz der erschwerten Bedingungen und der internen Spaltung befürworteten aber viele Palästinenser die Abhaltung der Wahlen.

​​Menschen mit unterschiedlichem Bildungsstand kamen in die Wahllokale. Obwohl die Frustration mit den alteingesessenen Parteien auf dem Höhepunkt angelangt ist, scheint der Glaube an demokratische Wahlverfahren und der Wunsch nach Mitbestimmung ungebrochen. Gerade auch auf lokaler Ebene, denn hier wird über die Zusammensetzung der Stadt-, Regional- und Dorfräte entschieden, die für die täglichen Belange zuständig sind – jedenfalls in den 20% der Westbank, in denen die Palästinenser über begrenzte Selbstverwaltung verfügen. Der Wille zur Partizipation ist alles andere als neu, schon gar nicht wurde er durch westliche Demokratieseminare geschaffen. Palästinensische Traditionen lokaler Mitbestimmung gehen auf die osmanische Zeit zurück und haben diverse Fremdherrschaften – das britische Mandat, die jordanische Herrschaft, die israelische Besatzung – überlebt.

Mit der Organisation und Durchführung der Wahlen haben die Palästinenser ein weiteres Mal ihre demokratische Reife demonstriert. Verlierer sind die angestammten Parteien: Weder die Hamas mit ihrem Boykottaufruf, noch die intern zerstrittene, führungs- und richtungslose Fatahbewegung können die meisten Menschen noch überzeugen, da sie keine Lösungen parat haben. Die Besatzung dauert an, und die Palästinenser haben keinen Zugriff auf ihr eigenes Land und ihre eigenen Ressourcen, die von den stetig wachsenden Siedlungen in der Westbank ausgebeutet werden. Die palästinensische Autorität hängt am Tropf internationaler Hilfe.

Die Wahlen können die überkommenen Strukturen und die fehlende Legitimität nicht beheben. Eine zukünftige palästinensische Bürgerrechts- und Protestbewegung gegen die Besatzung wird wohl auch nicht aus Wahlen hervorgehen, sondern eher aktiv die noch bestehenden politischen Strukturen – einst 1993 als Übergang geschaffen – zu überwinden suchen. Dass sich die Palästinenserinnen und Palästinenser dennoch an den Wahlen beteiligt haben, zeigt nicht weniger als ihren Willen nach Selbstbestimmung und ist ein Indikator für die Suche nach politischen Alternativen.

René Wildangel

© Qantara.de 2012

René Wildangel ist Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah.

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de