Palästinensische Selbstverwaltung steht vor dem Kollaps

Die anhaltenden Unruhen der vergangenen drei Monate im Nahen Osten haben die Machtlosigkeit der Palästinensischen Autonomiebehörde schonungslos offengelegt. Sie kann der rebellierenden Jugend keine Perspektive auf ein würdiges Leben bieten, stellen Experten fest. Und obwohl die israelische Regierung kein Interesse an weitgehenden Zugeständnissen an die Palästinenser für eine umfassende Verhandlungslösung hat, fürchtet sie inzwischen die Folgen eines Zusammenbruchs der palästinensischen Selbstverwaltung. Davor hatte eindringlich auch US-Außenminister John Kerry bei seinem Besuch Ende November gewarnt.

"Die jungen Leute sehen kein Licht am Ende des Tunnels und leiden unter den wirtschaftlichen Folgen", sagt Ghassan Chatib, Vizepräsident der Birzeit-Universität bei Ramallah. Er verweist darauf, dass fast die Hälfte der unter 25-Jährigen erwerbslos ist, bei einer Arbeitslosenrate von 27 Prozent in der palästinensischen Gesamtbevölkerung. Mehr als zwanzig Jahre nach den Oslo-Abkommen, welche die Autonomiebehörde als ersten Schritt zu einer noch zu verhandelnden Zweistaatenlösung schufen, hat die neue Palästinensergeneration kaum noch Hoffnung auf einen eigenen Staat.

Während sie heranwuchsen, haben die jungen Palästinenser keinen Fortschritt bei Friedensgesprächen, dafür aber das ständige Wachsen der israelischen Siedlungen im besetzten Westjordanland erlebt. Das Vertrauen in die eigenen, zerstrittenen Politiker ist zerstört.

Unterdessen setzt die Autonomiebehörde die von den meisten Palästinensern abgelehnte Sicherheitskooperation mit Israel fort, weil sie offenbar nur so ihr eigenes Überleben sichern kann. Eine demokratische Legitimation der Volksvertreter fehlt. Aufgrund der tiefen Feindschaft zwischen der islamistischen Hamas, die den Gazastreifen kontrolliert, und der säkularen Fatahpartei von Präsident Mahmud Abbas, die im Westjordanland dominiert, sind Wahlen überfällig. Das Mandat von Abbas lief eigentlich 2009 aus. Das 2006 gewählte Parlament trat zuletzt 2007 zusammen.

"Die heutigen Parteiführer sind unfähig, die politischen und wirtschaftlichen Erwartungen der Bevölkerung zu erfüllen", sagt Politologe Chatib, der bis 2006 selbst zweimal Minister war. Aber heute sei "die hiesige Politik in einer Sackgasse und unfähig sich neu zu erfinden".

Palästinensische Regierung und Parteien wurden seit Anfang Oktober überrumpelt von den gewaltsamen Protesten an den Absperrungen der israelischen Armee und einer Welle von Anschlägen mit Messern, Autos und vereinzelt auch Schusswaffen. Das Durchschnittsalter der als Einzeltäter handelnden Attentäter liegt um die 20, darunter sind auch immer wieder Mädchen und junge Frauen. Die Mehrzahl der Angreifer wurde auf der Stelle von israelischen Sicherheitskräften erschossen.

Zu Beginn der Unruhen ließ die Regierung noch zu, dass Studenten und andere Demonstranten vor die Kontrollposten zogen und sich dort Straßenschlachten mit den israelischen Soldaten lieferten. "Aber inzwischen sind palästinensische Polizeikräfte massiv präsent und behindern unseren Protest", berichtet Seif al-Islam Daghlas vom Studentenrat der Birzeit-Uni. "Insbesondere der Kerry-Besuch in Ramallah hat dies verstärkt", klagt er.

In der Weihnachtswoche beobachteten AFP-Reporter nördlich von Ramallah, wie zivil gekleidete Greifertrupps der palästinensischen Sicherheitskräfte mit Schlagstöcken gegen Demonstranten vorgingen. Auch Journalisten wurden festgenommen und ihre Ausrüstung beschlagnahmt.

US-Außenminister Kerry warnte Anfang Dezember vor einem Kollaps der palästinensischen Selbstverwaltung: "Sorgt sie nicht mehr für Sicherheit, könnte Israel gezwungen sein, zehntausende weitere Soldaten auf Dauer ins Westjordanland zu entsenden. Sind die Israelis bereit, ihre wehrpflichtigen Kinder und Enkel dieser unvermeidlichen Konfrontation auszusetzen?"

Am Montag traf sich das israelische Sicherheitskabinett erneut, um zu diskutieren, wie ein Zusammenbruch der Autonomiebehörde in Ramallah noch vermieden werden kann, berichtete die Tageszeitung "Haaretz". Auch Vorbereitungen für den Ernstfall wurden bereits besprochen. Mohammed Schtajeh aus der Fatah-Führung merkt bitter an: "Wir würden unserer Regierung keine Träne nachweinen, weil letztlich ja auch heute schon der israelische Militärgouverneur der wahre Regent im Westjordanland ist." (AFP)

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