Gold oder Kopftuch?

Ein weiterer Schritt in Richtung Emanzipation? Die ganze Welt feiert den Einzug von zwei Kopftuch tragenden Sportlerinnen in die Olympischen Spiele. In Wirklichkeit verbuchen muslimische Sportlerinnen schon seit Jahrzehnten Erfolge bei Olympia. Die arabische Sportlerin wird bei den Olympischen Spielen zur Exotin degradiert, schreibt Manfred Sing in seinem Essay.

Olympische Spiele in Los Angeles, Endlauf 400 Meter Hürden. Als die Läuferin mit dem Lockenkopf in die Zielgerade biegt, wirft sie einen kurzen Blick nach links und nach rechts. Als wollte sie fragen: Na, wo bleibt ihr denn? Ein ungläubiges Staunen huscht über ihr Gesicht und verwandelt sich in ein Strahlen. Die Konkurrentinnen sind abgeschlagen. Schon vor der Ziellinie kann die Kleinste im Feld die Arme zum Siegesjubel in die Höhe werfen. Gold für die Marokkanerin Nawal Al Moutawakel. Sie schrieb Geschichte damals: Als erste Araberin, Afrikanerin und Muslimin wurde sie Olympiasiegerin.

Das ist jetzt 28 Jahre her. Heute ist Al Moutawakel Vizepräsidentin im Exekutivkomitee des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) und gilt als aussichtsreiche Kandidatin für die Nachfolge von IOC-Chef Jacques Rogge. Sie ist eine von drei Frauen in der 15-köpfigen Sportregierung. Bei der Eröffnungszeremonie in London nun rief Rogge "die weiblichsten Spiele" aller Zeiten aus und behauptete, dass man einen großen Schritt Richtung Geschlechtergleichheit getan hätte. Weil aus allen 204 Olympia-Ländern mindestens eine Sportlerin anreiste. Konkret entsandten drei Länder – die beiden arabischen Staaten Katar und Saudi-Arabien sowie das islamische Sultanat Brunei – erstmals Frauen, sieben an der Zahl.

Bei Rogges Worten rückten die Kameras die beiden Kopftuch tragenden saudischen Sportlerinnen ins Bild, die, glaubt man den Medien, "das Symbol dieser Spiele" (FAZ) sind: Judoka Wojdan Shahrkhani und 800-m-Läuferin Sarah Attar. Wojdans Niederlage in 82 Sekunden sorgte für mehr Medienandrang als mancher Olympiasieg, und sie gab der Hoffnung Ausdruck, dass ihr "viele Frauen nachfolgen" werden. Auch die chancenlose Sarah (Bestzeit: 2:40 Minuten) hofft, "ein paar große Schritte für die Frauen" zu gehen, "damit sie mehr Sport treiben können."

FIFA-konforme Tücher mit Klettverschluss

Was das alles mit Spitzensport zu hat? Wenig. Dem IOC kam es in erster Linie auf eine makellose Verbandsstatistik an. Um diese zu erreichen, erteilte es etliche so genannte Wildcards an Sportlerinnen, die die Qualifikationskriterien nicht erfüllen, damit sie als sportliche Botschafterinnen ihr Land repräsentieren können. Das Repräsentieren hat so den sportlichen Wettkampf in den Hintergrund gedrängt. Nicht nur, dass so der Eindruck erweckt wird, im Frauensport komme es mehr auf Quantität denn auf Qualität an, die wirklich "großen" Leistungen würden ohnehin von Männern wie Wiggins, Phelps und Bolt vollbracht. Nicht nur, dass Araberinnen drei Jahrzehnte nach Al Moutawakels Goldmedaille wieder als Sport-Exotinnen dastehen, für die das "Dabeisein", sprich: Ausscheiden in der ersten Runde, das höchste der Gefühle sei. Hinzukommt, dass das Repräsentieren zum Problem werden kann, wenn etwa die Hidschab-Sportlerinnen nicht nur für die olympische Idee, sondern auch für die Politik des Entsendelandes in Beschlag genommen werden. Die Vorstellung, arabische Sportlerinnen seien etwas Exotisches, wird so von zwei Seiten bedient: Dem Jubel des IOC und der Weltpresse über die zwei saudischen Teilnehmerinnen und dem Beharren des saudischen Olympischen Komitees (NOK) auf der Kopftuchpflicht.

Ausstellung zu Frauen bei der Olympiade, Foto: Ben Pruchnie/Getty Images For Sotheby's
Fotoausstellung zum Thema "Frauen im Sport": Was hat der Rummel um die beiden Kopftuch tragenden Athletinnen mit Spitzensport zu tun? In Wirklichkeit geht es darum, dass die Sportlerinnen ihr Land repräsentieren - der Wettkampf wird so in den Hintergrund gedrängt.

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Den Umstand, dass die Vergabe der Wildcard an die saudisch-amerikanische Judoka offenbar nicht ganz konfliktfrei erfolgte – Rogge: "Das IOC hat sehr eng mit Saudi-Arabiens Olympischem Komitee zusammengearbeitet, und ich freue mich zu sehen, dass unser Dialog gefruchtet hat" ―, nutzte das saudische NOK, um einen sport- und kulturpolitischen Streit vom Zaun zu brechen. Der Judo-Verband akzeptierte erst nach einigem Hin und Her, als Rogges Show von den weiblichsten Spielen ein PR-Desaster zu erleiden drohte, eine Haarbedeckung für die Judoka.

Es war bereits die zweite Kopftuchpanne der Sportfunktionäre: Die FIFA verfügte 2007 ein Kopftuch-Verbot, weil sie Unfälle auf den Fußballplätzen befürchtete. Als sich die iranische Frauenfußballmannschaft beim Qualifikationsspiel für die Spiele in London weigerte, ohne Hidschab anzutreten, wurde das Spiel mit 0:3 für Jordanien gewertet und Iran disqualifiziert. Iran legte Protest ein und brachte das Thema sogar in den Vereinten Nationen zur Sprache. Erst in diesem Jahr zeigte sich die FIFA einsichtig, hob ihr Verbot nach "Sicherheitstests" wieder auf und feierte ihre Entscheidung als multikulturellen Fortschritt im Sinne des Sports. "Es gibt derzeit keine medizinische Literatur, die über Verletzungen als Folge des Tragens von Kopftüchern berichtet", hat die FIFA herausgefunden. Einzige Auflage: Im Fußball müssen Kopftücher jetzt Klettverschluss haben.

Zweifelhafter "Fortschritt"

Der Slogan von den "weiblichsten Spielen" gibt unabsichtlich ein wenig vorteilhaftes Frauenbild preis – nicht zuletzt auch deshalb, weil die Olympische Bewegung weder ein feministischer noch ein sonderlich innovativer Klub ist. Ein steigender Frauenanteil im Sport ist vielmehr Ausdruck gesellschaftlichen Wandels, dem sich die Sportverbände nicht verschließen können: Zu den Londoner Spielen 1908 kamen 27 Frauen bei insgesamt 2000 Teilnehmern; heute sind es 4800 Frauen bei 10.500 Teilnehmern, mehr als 40 Prozent.

Muslimische Fußballspielerinnen mit Hijab;Foto: picture-alliance/dpa
Die Araberinnen stehen drei Jahrzehnte nach Al Moutawakels Goldmedaille wieder als Sport-Exotinnen da, für die nur das "Dabeisein", sprich: Ausscheiden in der ersten Runde das höchste der Gefühle ist – eine seltsame Emanzipation.

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1896 befand der französische Sportfunktionär Pierre de Coubertin, der Einschluss von Frauen wäre "unpraktisch, uninteressant, unästhetisch und inkorrekt" gewesen. Vier Jahre später in Paris waren die ersten Frauen im Reiten, Tennis, Golfen, Segeln und Croquet am Start. 1912 durften sie mitschwimmen, bis auf die Amerikanerinnen, denen der eigene Verband keine Sportart erlaubte, bei der sie keine langen Röcke tragen konnten. Seit 1928 gibt es Leichtathletik-Wettkämpfe auch für Frauen. Allerdings wurde der 800-Meter-Lauf aus medizinischen Gründen bis 1960 wieder aus dem Programm genommen. Aus demselben Grund war Marathonlaufen bei Olympia für Frauen bis 1984 nicht vorgesehen. Norwegens Läuferlegende Grete Waitz hatte schon vier ihrer neun Siege beim New York City Marathon errungen, ehe sie beim ersten olympischen Frauenmarathon ran durfte und Silber holte. Neuerdings dürfen Frauen auch olympisch Gewichtheben und Boxen. Bevor Frauenboxen ins Programm aufgenommen wurde, war eine Rockpflicht wie im Tennis im Gespräch.

Dass das IOC die "Weiblichkeit" der Spiele einerseits per Statistik, anderseits mit den drei islamischen Nachzüglern begründet, hat argumentativ eine Schieflage. Denn Religiosität, ethische Zugehörigkeit oder familiäre Herkunft von Sportlerinnen haben das IOC nicht zu interessieren; das IOC gab deshalb auch keine absolute Zahl der "Musliminnen" bei Olympia bekannt. Dadurch bleibt aber unklar, welche Form von Erfolg das IOC jenseits seiner Verbandsstatistik eigentlich feiert. Denn vorsichtig geschätzt, dürften in London etwa 280 Athletinnen "islamischer" Herkunft am Start sein, das wären etwa zehn Prozent aller muslimischen Teilnehmer, die etwa ein Drittel des gesamten Teilnehmerfeldes ausmachen. Die islamische Frauenquote legt eher den Gedanken nahe, dass noch viel zu tun ist, als dass schon ein Meilenstein erreicht wäre, wie das IOC glauben machen will.

In vielen ärmeren Staaten fehlt es schlichtweg an den geeigneten Trainingsmöglichkeiten für Spitzenathleten, und die soziale Umwelt ist für Sport im Allgemeinen und für Frauensport im Besonderen nicht gerade förderlich. "Wir könnten viel mehr große Athletinnen in Marokko haben, wenn die Umwelt sie einfach machen ließe", sagte El Moutawakel nach ihrem Olympiasieg, "viele fangen mit 13 an und hören mit 18 auf, weil ihnen gesagt wird, dass Sport etwas ist, was Mädchen nicht weiter tun sollten."

Genug Olympia bei muslimischen Frauen

Es ist eher unwahrscheinlich, dass sich das durch die zwei saudischen Sportlerinnen ändert, die jetzt im olympischen Rampenlicht stehen. Denn Saudi-Arabiens restriktive Sportpolitik ist weder repräsentativ für die islamische Welt – es gibt Mädchensport nicht an staatlichen, nur an privaten Schulen, Frauen können nicht in Sportvereinen trainieren –, noch gibt sie Anlass zur Hoffnung.

Hassiba Boulmerka bei der Leichtathletik-WM 1995; Foto: picture-alliance/dpa/epa
Die algerische Läuferin Hassiba Boulmerka: Olympia ist weder ein feministischer noch ein sonderlich innovativer Verein. Jahrzehntelang waren Frauen aus vielen olympischen Disziplinen ausgeschlossen.

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Andere Verbände haben in punkto Frauenförderung größere Fortschritte erzielt, seit die türkischen Fechterinnen Suat Aşani und Halet Çambel 1936 in Berlin die Klingen kreuzten ― als erste Olympionikinnen aus einem ebenso islamischen wie laizistischen Land. Neben Moutawakel gab es drei weitere arabische und drei muslimische Olympiasiegerinnen (für Algerien, Syrien, Indonesien, Türkei, Kasachstan). Für die Türkei treten 2012 erstmals mehr Frauen (66) als Männer (48) an, was sich angesichts der Bewerbung Istanbuls für die Austragung der Spiele 2020 gut macht. Ägypten hat mit 34 von 119 Athleten die größte arabische Frauendelegation entsandt. Zum zweiten Mal sind Frauen aus den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) und aus dem Oman dabei, wobei sich die 17-jährige Khadija Mohammed (VAE) als erste Gewichtheberin aus dem Mittleren Osten direkt für die Spiele qualifizierte.

Für Algerien hat sich ein Frauenteam im Volleyball qualifiziert, für die Türkei ein Volleyball- und Basketballteam. Die malaysische Luftgewehrschützin Nur Suryani Mohamed Taibi wird wohl als erste hochschwangere Wettkämpferin in die olympische Geschichte eingehen. Und während im australischen Team eine Athletin mit Sitzstreik drohte, wenn nicht endlich mal eine Frau die Fahne bei der Eröffnungszeremonie tragen dürfe, gab es Fahnenträgerinnen von nicht weniger als zwölf Staaten mit hohem islamischem Bevölkerungsanteil: Albanien, Bahrain, Brunei, Djibouti, Indonesien, Irak, Jordanien, Komoren, Marokko, Katar, Tadschikistan und Türkei.

Olympische Widersprüche am Frauenkörper

Es ist sogar denkbar, dass die Olympischen Spiele schon bald in der arabischen Welt stattfinden. Der Grund dafür heißt Katar, ebenfalls ein Frauen-Entsende-Neuling. Denn nachdem Katar den Zuschlag für die Fußball-WM 2022 erhalten hatte, bemühte es sich auch um die Ausrichtung der Olympischen Spiele 2020. Nach dem Scheitern der Bewerbung wurde dem Land zu verstehen gegeben, dass eine Wiederbewerbung für 2024 aussichtslos sei, solange nicht mehr für Frauen getan werde. Seitdem versucht sich Katar in der Frauenförderung zu profilieren.

Die syrische Sportlerin Ghada Shouaa,Foto: picture-alliance/dpa
Die syrische Goldmedaillengewinnerin Ghada Shouaa: "Leistungssport schwankt generell zwischen Körperkult, Sexualisierung und Vermarktung auf der einen und Schönheitsideal, Prüderie und Ethnisierung auf der anderen Seite", schreibt Manfred Sing.

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Die 19-jährige Schützin Bahiya Al Hamad gibt die perfekte Werbeträgerin ab, seit sie bei den Arabischen Spielen 2011 drei Gold- und zwei Silbermedaillen gewann. Zum Frauenteam von London gehören außerdem eine Schwimmerin, eine Sprinterin und eine Tischtennis-Spielerin. Der Inselstaat versteht sich als Modernisierungskraft der arabischen Welt, beheimatet den Fernsehsender Al Jazeera, unterstützt die moderaten islamischen Kräfte seit dem Arabischen Frühling und rief 2004 die "Aspire Academy" ins Leben, eine der weltweit größten Ausbildungsstätten für 1000 Athleten. Als Teil seiner Imagekampagne zeigt Katar im Rahmenprogramm der Spiele die Ausstellung "Arabische Frauen im Sport", in der 50 Sportlerinnen aus 20 arabischen Ländern porträtiert werden.

Leistungssport schwankt generell zwischen Körperkult, Sexualisierung und Vermarktung auf der einen und Schönheitsideal, Prüderie und Ethnisierung auf der anderen Seite. Weil Frauen auch im Wettkampf eine gute Figur abgeben sollen, werden diese Widersprüche vor allem am Frauenkörper sichtbar, ganz gleich, ob man den optischen Eindruck durch Muskelpakete, Storchenbeine, Röcke oder Kopftücher verschönt oder gestört sieht.

Arabische Anwärterinnen auf eine Medaille sind in London übrigens Mimi Belete und Maryam Yusuf Jamal, die für Bahrain über 1500 Meter starten. Wenn eine von ihnen Gold holt, werden die Sportreporter sicherlich darauf hinweisen, dass die beiden ursprünglich aus Äthiopien stammen. So, also wäre es völlig abwegig, dass eine "echte" Araberin gewänne. Und dann auch noch ohne Kopftuch.

Manfred Sing

© Qantara.de 2012

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

Dr. Manfred Sing ist Research Associate am Orient-Institut in Beirut.