Der letzte Prophet

Zum 15. Todestag von Nusrat Fateh Ali Khan erinnert sich die Welt an den pakistanischen Ausnahmemusiker. Der "King of Qawwali" war eine Lichtfigur in der von viel Dunkelheit heimgesuchten Geschichte des südasiatischen Landes. Von Marian Brehmer

Von Marian Brehmer

Sich in Nusrat Fateh Ali Khans gewaltiges Oeuvre zu versetzen, bedeutet, dem Metaphysischen zu begegnen. Sein Gesang ist der Welt entrückt, trägt uns jenseits des Wahrnehmbaren. Ein französischer Filmemacher gab einer Dokumentation über den bedeutendsten Sufi-Musiker des 20. Jahrhunderts gar den - zugegebenermaßen - nicht ganz ungewagten Titel "Der letzte Prophet".

Nusrat Fateh Ali Khan erblickte 1948 in der Stadt Lyallpur (heute Faisalabad) das Licht der Welt. Erst im Jahr zuvor war sein Geburtsland Pakistan aus den gewaltsamen Wehen des indischen Unabhängigkeitskampfes geboren. Damals konnte in diesem jungen Land noch keiner ahnen, dass Nusrat einmal zur größten Lichtfigur Pakistans aufsteigen sollte.

Siegeszug der Qawwali-Musikkultur

Nusrats Musikstil, der Qawwali (von dem arabischen Wort "qaul" - sprechen), ist exemplarisch für den besonderen Weg, den der Islam in Südasien nahm. Im Qawwali vereinten sich im 13. Jahrhundert indische mit persischen und arabischen Elementen zu einer neuen Musiktradition. Als Vater des Genres gilt Amir Khusrow (1253-1325), Lyriker und Komponist am Hofe des Sultanats von Delhi. Sein Grab in Delhi ist noch heute ein wichtiges Pilgerzentrum des indischen Sufismus.

Miniatur eines Manuskripts von der Majjlis al-Usshak von Hussein Bayqarah, Foto: Wikipedia/ Creative Commons License)
Persische und arabische Musikelemente vereint: Der Lyriker und Komponist Amir Khusrow (1253-1325) gilt als Begründer des Qawwali.

​​In Indien, das im islamischen Mittelalter zu einer Wiege der persischen Künste wurde, gewann Qawwali rasch an Bedeutung: Viele Hindus sollen von den Liedern Khusrows so berührt gewesen sein, dass sie zum Islam konvertierten. Heute ist Qawwali ein wichtiger Bestandteil im Glaubensalltag der über 350 Millionen Muslime Südasiens. Es gibt kaum einen Sufischrein in Indien oder Pakistan, an dem nicht schon einmal Lieder aus dem Qawwali-Repertoire gespielt wurden. Und kaum einen Musikladen, der nicht Nusrats Alben führt.

Qawwali-Hymnen sind vertonte Gedichte aus dem Schatz klassischer Sufi-Mystiker wie Rumi und Hafiz oder lokaler Dichter. Die Texte preisen Gott, den Propheten und die Heiligen. Sie verleihen der Sehnsucht und der glühenden Liebe des Suchenden Ausdruck, tragen den Schmerz der Trennung und das Glück der Vereinigung mit dem Göttlichen in sich.

Nusrat Fateh Ali Khan sang auf Persisch, vor allem jedoch in den pakistanischen Sprachen Urdu und Panjabi. Als Vorsänger, Qawwal, oblag es ihm, den Versen Leben einzuhauchen, einzelne Zeilen zu betonen, in die Länge zu ziehen und die Ausgangsmelodie mit virtuosen Tonabläufen zu bereichern. Der Chorus klatscht rhythmisch dazu und wiederholt das Gesungene des Qawwal, ähnlich wie in der Gospelmusik nach dem "Call-and-response"-Prinzip.

Anfangs wurde der Gesang allein von den Trommeln Dholak und Tabla begleitet, später kam das von christlichen Missionaren nach Indien eingeführte Harmonium hinzu. Die perfekte Verschmelzung von Text, Rhythmus und Gesang im Qawwali ruft bei den Zuhörern ekstatische Zustände hervor. Letztendliches Ziel ist die Transzendenzerfahrung.

Nusrat Fateh Ali Khan während eines Konzerts, Foto: AP
"Sowie ich anfange zu singen, versinke ich in meiner Musik, und nichts bleibt übrig als diese Versunkenheit ", wird Nusrat Fateh Ali Khan zitiert.

​​Nusrats Vater, selbst Qawwal von Ansehen, hatte eigentlich andere Pläne für seinen Sohn: Er sah den Jungen als Arzt, in seinen Augen eine zukunftsträchtigere Profession als das ärmliche Dasein eines Musikers. Doch Nusrat, dessen Name "Erfolg" bedeutet, war von der Musik wie besessen. Der Heranwachsende drängte seinen Vater dazu ihn in die Qawwali-Kunst einzuweisen.

Dem sakralen Ursprung verbunden

Nusrat erwies sich schnell als würdiger Nachfolger der Tradition. Seinen ersten öffentlichen Auftritt hatte er mit 16 Jahren, nach dem Verscheiden des Vaters. Zum Chehlum-Gedenken, das im Islam 40 Tage nach dem Tod eines Verstorbenen abgehalten wird, sang er an dessen Grab. Darauf übernahm Nusrats Onkel Mubarak die Ausbildung seines Neffen. Nach dessen Tod wurde Khan 1971 zum musikalischen Oberhaupt des Familienensembles.

Nusrats Ruhm verbreitete sich in Pakistan und Indien, erreichte aber auch bald internationale Bühnen: Erste Tourneen führten ihn Anfang der 1980er Jahre nach England und Skandinavien, wo er vor allem vor pakistanischem Exilpublikum auftrat. In den Folgejahren sang Nusrat mit westlichen Musikern wie Peter Gabriel und Eddie Vedder ("Pearl Jam"), konzertierte sich auf Weltmusik-Festivals, versuchte sich an Fusion-Projekten und nahm Soundtracks für eine Hollywood-Produktion auf. Zum ersten Mal wurde Qawwali auch in Europa und den USA bekannt.

Nusrat blieb dem sakralen Ursprung seiner Musik jedoch stets verbunden. Für ihn war Qawwali gemäß sufistischer Tradition ein Weg zur Gottes- und damit Selbsterkenntnis, die sich im Dialog von Qawwal und Zuhörer ereignet. Anders die Schnelllebigkeit der populären Musik, mit der Nusrat im Ausland in Berührung kam.

"Die beste Stimme der Welt"

In der "Hommage à Nusrat Fateh Ali Khan", einer CD zur Erinnerung an den Meister, wird Nusrat zur Wirkung von Qawwali zitiert: "Sowie ich anfange zu singen, versinke ich in meiner Musik, und nichts bleibt übrig als diese Versunkenheit (...). Dank meiner Vorfahren kann ich die Botschaft überliefern, die sie selbst überlieferten, und mich in den Dienst meiner Zuhörer stellen, um sie dafür zugänglich zu machen."

Bei Youtube finden sich zahlreiche Aufnahmen, die diese Versunkenheit dokumentieren. Man sieht darin einen Mann von großer Körperfülle, umringt wie ein Buddha von seinen Anhängern, den Musikern. Während Nusrat in die Tiefe seine Lieder eingeht, schmeißt er die Hände nach oben, wiegt und schüttelt den Kopf im Rausch des Gesangs. Seine Konzerte dauerten nicht selten mehrere Stunden, manchmal ganze Nächte. Ungeheuer, seine Stimme, die das "Rolling Stones"-Magazin einmal als "die beste der Welt" bezeichnete.

Nusrat starb zwei Tage nach dem 50. Geburtstag Pakistans, aber noch vor seinem eigenen. Die Folgen einer Diabeteserkrankung bescherten dem Qawwal am 16. August 1997 einen frühen Tod.

Für den Subkontinent und seine zwei verfehdeten Staaten ist Nusrat eine Stimme der Einheit. Sie ist Ausdruck der gemeinsamen Kultur, die Indien und Pakistan miteinander teilen.

Für sein Heimatland ist Nusrat ein ewiger Hoffnungsträger, der auch in unruhigen Zeiten fortbesteht. In den letzten Jahren trafen Terroranschläge die Sufischreine des Landes und zielten damit mitten ins Herz der pakistanischen Volksspiritualität. Qawwali-Aufführungen sind seitdem weniger geworden. Doch das Vermächtnis eines Nusrat Fateh Ali Khan lässt sich nicht so leicht wegbomben.

Marian Bremer

© Qantara.de 2012

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de