Liebesrausch im Flüchtlingscamp

In ihrem Roman "Hennanacht" schildert die syrische Schriftstellerin Nemat Khaled die hoffnungslose Liebe einer gebildeten Palästinenserin. Die Gefühle der jungen Frau sind so stark, dass sie sogar das Leid im Flüchtlingslager verdrängen. Eine Rezension von Volker Kaminski

Wer sich dem Schmerz der Liebe derart hingibt wie Nadia, Heldin und Erzählerin des Romans, wird zwangsläufig zum Gefangenen seiner eigenen Gefühle. Nadias Cousin Djalal war einst der Mann ihrer Träume. Eine kurze glückliche Zeit waren sie zusammen, die Hochzeit stand bevor, aber Djalal konnte nicht treu sein. 

Während Djalal eines Tages Stadt und Land hinter sich lässt und Nadia für immer aus seinem Leben streicht, kann Nadia ihn nicht vergessen. Sie denkt pausenlos an ihn, führt imaginäre Gespräche, als könnte sie ihn dadurch zurückrufen, und befragt im Fieber ihre verstorbene Großtante Hassna, die knapp sechzig Jahre davor eine ähnliche unglückliche Liebe erlebte.

Statt die übliche Hennanacht feiern zu können, die der Hochzeit traditionellerweise vorausgeht, versinkt Nadia in eine düstere "Hennanacht der Verzweiflung", aus der sie keinen Ausweg mehr findet.

Poetisch aufgeladene Sprache

Auf dieser schmalen Ausgangsbasis baut Nemat Khaled ihren Roman, der über weite Strecken aus dem inneren Monolog der jungen Heldin besteht. Der Ort ihres trügerischen Glücks ist ein palästinensisches Flüchtlingslager im heutigen Syrien; es erscheint wie die passende Kulisse für ihre innere Verlassenheit und unerfüllten Sehnsüchte.

Die Menschen wohnen in eilig hochgezogenen Betonklötzen, bewegen sich auf leeren Straßen, die diesen Namen eigentlich gar nicht verdienen, weil sie so ramponiert sind. Es herrscht hohe Jugendarbeitslosigkeit, Kriminalität und Drogenmissbrauch.

Doch die schwierigen Verhältnisse in Jarmuk, wo Nadia als Journalistin arbeitet, bleiben im Hintergrund; viel zu überbordend sind ihre Gefühle und Verletzungen, die sie durch Djalal erlitten hat. Nadjas Stimme trägt den Roman von der ersten Seite an; in einer soghaften, poetisch hoch aufgeladenen Sprache buchstabiert sie das Drama ihres Lebens in immer wiederkehrenden Bildern und Szenen, bis die Welt um sie herum in Liebesgeflüster zu versinken scheint, das sie zugleich betört und schmerzt.

Die sie begleitende Stimme ihrer Großtante Hassna wirkt wie ein Resonanzraum, der Nadjas rückwärts gewandte Phantasien und Träume verstärkt. Hassna lebte nach dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls in einem Flüchtlingslager, in Quneitra im Golan, wohin die Familie fliehen musste, als der arabisch-israelische Krieg 1948 ausbrach. Auch Hassnas Lebensgeschichte scheint im Rückblick reduziert auf die eine große unerfüllte Liebe zu ihrem Cousin Awwad.

Wenn Nadia in ein Zwiegespräch mit der Toten eintritt, erzählt Hassna ihr von Awwad, von seiner Schönheit und Zärtlichkeit, während Nadia ihr von Djalal vorschwärmt. Die Stimmen der beiden Frauen überlagern sich; einzig Nadias zeitgemäßes Freiheitsstreben, ihre Bildung und Beruf, die sie ihrer Großtante und ihrer Mutter voraushat, markiert den Wandel der Zeit, der sich inzwischen vollzogen hat.

Ununterbrochener Sehnsuchtsmonolog

Der Spannungsmoment des Romans besteht im drohenden Verlust der eigenen Identität, dem Nadia ausgesetzt ist und der in der collageartigen Überlappung der unterschiedlichen Stimmen Nadias und ihrer Großtante lesbar wird. Nadias wankendes Ich, ihre verzweifelte Selbstsuche findet in ihrem emotionsgeladenen Monolog einen glaubhaften Ausdruck.

Allerdings wirkt dieser ununterbrochene Sehnsuchtsmonolog mit der Zeit etwas hilflos, die Beschwörungen von Zauberei und Dämonenglauben durch ihre Mutter, das Raunen der Großtante verstärken den Eindruck von Passivität, so dass der Roman sich leider dem Klischee von der schwachen ohnmächtigen Frau und dem treulosen Macho-Mann annähert. Zu sehr wirkt Nadia in den Fesseln der Familie gefangen, aus denen sie sich nicht lösen kann und innerhalb derer sie sich zu früh an den "Mann fürs Leben" gebunden hat.

Obwohl der Roman das zeitgemäße Bild einer jungen, ehrgeizigen Frau zu zeichnen versucht, die in einer Zeitungsredaktion arbeitet, zu politischen Fragen Stellung nimmt und sich von den alten Stammeswerten löst, die noch für ihre Mutter galten, kommt Nadia nicht in der Gegenwart an. Dies zeigt sich vor allem im sprachlichen Stil, in seiner allzu blumigen, mitunter schwülstigen Ausdrucksweise. Die Sätze wirken für den modernen Geschmack manchmal überladen, und selbst für einen ausgewiesenen Liebesroman sind die Sexszenen zu nahe am Kitsch.

Durchgängige Moll-Tonart

Diese Problematik wird durch die Übersetzung gewiss nicht behoben, sondern eher noch verstärkt. Sätze wie: "Ein lüsterner Stich fuhr mir durch den Körper" oder "Ich lächelte und seine Lippen schäumten" sind für das gängige Sprachverständnis nicht nur unüblich, sondern nahezu ungoutierbar.

Trotzdem bleibt die Intensität des Romans im Lesergedächtnis und Nadias Zerrissenheit zwischen Intellektualität und Liebesschmerz ergeben ein glaubhaftes Bild eines ausweglosen Lebens in einem zeitgenössischen Flüchtlingslager.

Der Alawi-Verlag, der es sich zur Aufgabe macht, arabische Autorinnen ins Deutsche zu übertragen, hat mit Nemat Khaled eine erfahrene, vielseitige Autorin herausgebracht, die schon mehrere Romane auf Arabisch publiziert hat und in Syrien als Journalistin, Kritikerin und Autorin arbeitet.

Dass "Hennanacht" traurig und ausweglos endet, ist zwar bedauerlich, doch innerhalb der eingenommenen Perspektive, in der die bedingungslose Liebe wie eine Krankheit erscheint (so wie es mehrfach im Roman formuliert wird), ist die durchgehaltene Moll-Tonart bewundernswert konsequent.

Volker Kaminski

© Qantara.de 2011

Redaktion: Lewis Gropp, Arian Fariborz/Qantara.de