Geschundenes Land

Dem pakistanisch-britischen Autors Nadeem Aslam ist ein großes Buch über Afghanistan gelungen – ein wunderbares und schreckliches zugleich, weil es anhand einiger vom Autor zusammengeführter Schicksale die komplexen und mörderischen Verstrickungen offenlegt, in denen sich Afghanistan seit Jahren befindet. Von Sarah Elsing

Seit Jahrzehnten lebt der britische Arzt Marcus in Usha, einem Dorf am Fuße der Tora-Bora-Berge, wo sich einst Osama Bin Laden versteckt haben soll. Er ist geblieben, obwohl man ihm alles genommen hat. Seine linke Hand wurde ihm abgehackt, seine geliebte Frau Qatrina von den Taliban gesteinigt, seine Tochter Zameen von den Sowjets gefoltert und vergewaltigt, der Enkel Bihzad verschleppt.

Allein harrt Marcus in einem verwunschenen Haus aus, das einst von einem persischen Maler und Kalligrafen erbaut wurde, der jedes Zimmers einem bestimmten Sinn zuordnete, Seh- und Hörsinn, dem Tast-, Geruchs- und Geschmackssinn, bis hin zum letzten Raum, der die Liebe repräsentiert. Nie verlässt ihn die Hoffnung, den verlorenen Enkel doch irgendwann noch wiederzufinden.

Anhand dieser tragischen Lebensgeschichte entfaltet der pakistanisch-britische Autor Nadeem Aslam seinen historisch so tiefgehenden wie zeitlich und gesellschaftlich breit angelegten Roman über das von Krieg und Terror heimgesuchte Afghanistan.

Sowjetische Truppen auf dem Rückzug aus Kabul; Foto: AP
Eine Historie von Leid und Krieg: Aslam beleuchtet die politischen Kräfte, die in Afghanistan seit dreißig Jahren ohne Rücksicht auf Verluste die eigenen Interessen verfechten.

​​Aslam holt dafür von den achtziger Jahren bis in die Gegenwart nach dem 11. September aus und beleuchtet noch einmal die politischen Kräfte, die dort seit dreißig Jahren ohne Rücksicht auf Verluste die eigenen Interessen verfechten und zu der russischen Okkupation Afghanistans Anfang der achtziger Jahre geführt haben, zum Bürgerkrieg zwischen den Warlords nach Abzug der Russen, zur Machtübernahme der Taliban Ende 1995 und nicht zuletzt dazu, dass die Amerikaner nur wenige Wochen nach 9/11 in Afghanistan einmarschierten und dort inzwischen fast annähernd so viele Soldaten stationiert haben wie einst die Russen.

Die Schatten der Vergangenheit

Im titelgebenden "Haus der fünf Sinne" finden all diese historischen Stränge zusammen. Die Gäste, die Marcus nach und nach in sein Heim aufnimmt, haben, ob sie es nun wissen oder nicht, alle eine gemeinsame Vergangenheit, die Stück für Stück ans Licht kommt. Lara, eine Russin, die auf der Suche nach ihrem in Afghanistan verschollenen Bruder Benjamin ist, muss feststellen, dass dieser während seiner fünfundzwanzig Jahre dauernden Dienstzeit grausame Folter und Vergewaltigungen begangen hat – unter anderem an Marcus' Tochter Zameen.

Nadeem Aslam; Foto: Robin Farquhar Thomson/DW
Nadeem Aslam wurde 1966 im pakistanischen Gujranwala geboren. Er war gezwungen, sein Land wegen des Widerstands seines Vaters gegen das Regime Zia-ul Haqs als Jugendlicher verlassen. Er lebt heute in London.

​​Der Amerikaner und früherer CIA-Agent David, der früher mit Zameen und deren Sohn zusammenlebte, entdeckt Vatergefühle für den jungen Dschihadisten Casa, der sich nach einem missglückten Anschlag auf das Dorf Usha schwer verletzt in das Haus von Marcus rettet. Dort betört ihn die schöne Dunia, eine gläubige Dorflehrerin, die von der örtlichen Bevölkerung wegen ihres vermeintlich freizügigen Lebenswandels abgelehnt wird.

Das Zusammentreffen all dieser Figuren in einem Haus ist eine geschickte Konstruktion, die es Aslam ermöglicht, verschiedene Stimmen gleichberechtigt zu Wort kommen zu lassen. Mit Marcus spricht ein später Nachfolger der Kolonialmächte, der sich in die Schönheit des Landes und seiner Bewohner verliebt hat und ihm sein Leben geschenkt hat.

Bücher an die Decke genagelt

Für die mit aller Gewalt unterdrückten Frauen unter den Taliban steht das Schicksal von Marcus' Frau Qatrina, die ihrem Mann kurz vor ihrer eigenen Steinigung öffentlich die Hand abschlagen muss. Vor ihrer Gefangennahme hatte sie im Zustand geistiger Umnachtung alle Bücher an die Decke genagelt und die wunderbaren Zeichnungen des persischen Kalligrafen mit Lehm bedeckt, um sie vor der Vernichtung durch die Taliban zu schützen.

Der frühere Agent David, bisher Fürsprecher imperialer Ansprüche der Besatzer, lernt die Brutalität amerikanischer Sicherheitsfirmen kennen, die nach ihrem Dienst für die amerikanische Armee bei afghanischen Warlords anheuern. Mit dem Strahl einer Lötlampe beschießt ein amerikanischer Muskelmann das Auge des dreizehnjährigen Casa - auf seinem T-Shirt das Ultraschall-Bild seines ungeborenen Kindes daheim in Amerika.

Am nächsten aber kommt man dem radikalisierten Casa, der bei den islamistischen Gotteskriegern ein neues Zuhause sucht und am Ende einen tragischen Tod als nichtsahnender Spielball der Warlords findet.

Präsenz des Vergangenen

Fahrradfahrer in der Logar-Provinz im Süden Kabuls; Foto: AP
Symbolische und metaphernreiche Botschaften gegen Zerstörung und Radikalismus: Nadeem Aslams Roman "Das Haus der fünf Sinne"

​​Aslam schildert all diese Schicksale und schier unerträglichen Grausamkeiten ohne jede moralische Wertung. Ihm geht es nicht um die Schuldfrage. Er will offenlegen, in welcher komplexen Verstrickung sich dieses geschundene Land Afghanistan seit Jahrzehnten befindet. Der hohe Ton, den Aslam dazu anschlägt, ist genau richtig. Er verleiht den einzelnen Schicksalen historisches Gewicht und dem Autor das Ansehen eines morgenländischen Geschichtenerzählers. Die Haltung eines allwissenden Erzählers jedoch hat Aslam überwunden.

Mit bemerkenswerter Sensibilität versetzt er sich in seine Figuren, erzählt aus ihrer Perspektive, zeigt in assoziativ-unvermittelten Rückblenden die Präsenz des Vergangenen in ihren Seelen. Aus kleinen Szenen schmiedet er symbolträchtige Schlüsselereignisse, die wie lyrische Kleinode im geschmeidigen Erzählfluss blitzen. Nadeem Aslam ist mit "Das Haus der fünf Sinne" ein großes Buch über Afghanistan gelungen – ein wunderbares und schreckliches zugleich.

Sarah Elsing

© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2011

Nadeem Aslam: "Das Haus der fünf Sinne". Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Rowohlt Verlag, Reinbek 2010, 460 Seiten

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de