Risse in der Front

Der politische Neubeginn in Libyen gestaltet sich überaus schwierig – zu zerstritten sind die Rebellen, Stammesclans sowie Vertreter des Nationalen Übergangsrates untereinander. Auch ist unklar, wie eine "Roadmap" zur Demokratie im neuen Staat aussehen könnte. Einzelheiten von Alfred Hackensberger aus Tripolis

Man hatte es sich wesentlich einfacher vorgestellt. "Eine Frage von Stunden" sollte die Eroberung der letzten Bastionen der Loyalisten Muammar al-Gaddafis sein.

Verhandlungen über eine friedliche Übergabe waren gescheitert und ein Ultimatum von zwei Wochen abgelaufen. Seit vergangenem Donnerstag (15.9.) wird nun in Sirte, der Heimatstadt Muammar Gaddafis, und in Bani Walid, einem Oasenort, rund 150 Kilometer südlich von Tripolis, gekämpft.

Die Truppen des Nationalen Übergangsrates (NTC) versuchten mehrfach, die Stadtzentren zu erreichen, mussten sich aber immer wieder aufgrund heftigen Beschusses zurückziehen. Die Gaddafi-Anhänger hatten genug Zeit, sich auf die Konfrontation mit den "Verrätern und Ratten", wie der Ex-Diktator die Rebellen nennt, vorzubereiten. Es sind Eliteeinheiten, die sich in Sirte und Bani Walid verschanzten. Sie scheinen disziplinierter und vor allen Dingen organisierter zu kämpfen, als ihre heranstürmenden Gegner.

Alle gegen alle?

Das militärische Vorgehen der NTC-Milizen ist chaotisch und offenbart Risse in der gemeinsamen Front. Als Gaddafi noch in Tripolis regierte und sich alles um die Eroberung der libyschen Hauptstadt drehte, spielte die ethnische oder die geografische Herkunft keine Rolle. Der Diktator ist mittlerweile auf der Flucht, sein Regime gefallen und das gemeinsame, übergreifende Feindbild funktioniert nicht mehr.

Vor Sirte und Bani Walid tragen NTC-Soldaten offen ihre Konflikte untereinander aus: Die Milizen aus der Stadt Misrata, die monatelang der Belagerung durch die libysche Armee widerstanden hatten, wollen sich von Kommandeuren aus anderen Städten nichts sagen lassen. Mitglieder des Warfalla-Stammes unter den Rebellen sind verdächtig, Spione zu sein. In Bani Walid leben Warfalla-Mitglieder und kämpfen für Gaddafi.

Rebellen vor Bani Walid; Foto: dapd
Ins Stocken geratene Offensive: In der Oasenstadt Bani Walid waren die Kämpfer des Übergangsrats am 18. September gezwungen, sich aus dem Stadtzentrum wieder zurückzuziehen.

​​"Warfalla-Kommandeure sagen uns dies und die Kommandeure anderer Städte sagen uns wieder etwas anderes", erzählte Mohammed Saleh, einer der NTC-Kämpfer. Entsprechend chaotisch ist die Organisation: Die Infanterie ist zu schnell, die Artillerie zu langsam oder umgekehrt.

Auf der politischen Bühne ist es nicht anders. Vor einem Monat war das NTC-Kabinett aufgelöst worden. Am vergangenen Sonntag (18.9.) sollte nun eine neue Regierung mit Innen- und Verteidigungsminister vorgestellt werden. "Wir hatten ein beratendes Treffen", verlautbarte Mahmoud Jibril, der Premierminister des NTC auf einer Pressekonferenz.

Der Zorn der Islamisten

"Bei einigen Ressorts herrschte Übereinstimmung, aber über einige Ministerposten muss noch gesprochen werden". Eine eher beschwichtigende Erklärung Jibrils. Angeblich sollen seine Person und sein Amt zur Diskussion stehen.

Der Premier hatte sich den Unmut der Islamisten innerhalb des NTC zugezogen. Bei einer Rede in Tripolis auf dem ehemaligen Grünen Platz, der jetzt Märtyrer-Platz heißt, hatte Jibril vor Extremismus gewarnt und für einen gemäßigten Islam plädiert. "95 Prozent der Libyer sind moderate Muslime", meinte der Premier und machte damit die Islamisten zu einer Minderheit.

Die Antwort kam prompt: Ismail Sallabi, der Anführer des 17. Bataillons in Bengasi, ein bekannter Gelehrter und Fundamentalist, stellte in einem Fernsehinterview die Legitimität des NTC in Frage: „Wir brauchen ihn als exekutives Komitee nicht mehr, setzt er sich doch aus ehemaligen Vertretern des Regimes zusammen."

Eine Spitze gegen Premierminister Jibril, der von 2007 bis 2011 für das libysche Nationale Ökonomische Entwicklungsgremium arbeitete. Oder auch gegen Mustafa Abduljalil, dem NTC-Vorsitzenden, der Jahrzehnte lang unter dem "großen Führer" Richter gewesen war. Fundamentalist Sallabi kritisierte zudem "säkulare Gruppen", die die Islamisten diskreditieren würden.

Mann läuft über zerrissenes Gaddafi-Plakat in Tripolis; Foto: dapd
Zwar ist das Gaddafi-Regime inzwischen Geschichte, aber der Diktator beeinflusst noch immer, wenn auch indirekt, die Geschicke Libyens, meint Hackensberger.

​​Zu diesen Laizisten zählt der islamische Gelehrte sicherlich Figuren, wie etwa Ali Tarhouni, der seit 1973 im Exil in den USA lebte, und in den letzten Monaten vom Finanz- und Ölminister zum stellvertretenden Premierminister des NTC avancierte. Tarhouni war 1980 Mitbegründer der marxistisch ausgerichteten Oppositionsgruppe "Nationale Demokratische Front". Der Minister mag heute kein Marxist mehr sein, aber ins islamistische Lager ist er bestimmt nicht übergelaufen.

Unter Gaddafi wurden sie verfolgt, eingesperrt und gefoltert. Heute haben Islamisten Schlüsselpositionen inne. Im Stadtrat von Tripolis besitzen sie die Mehrheit. Der neue Militärchef der Hauptstadt ist Abdelhakim Belhaj. Er ist der ehemalige Emir der "Libyschen Islamischen Kampfgruppe" (LIFG), die Afghanistanveteranen 1995 gegründeten und zum Ziel hatte, das Regime Gaddafis zu stürzen.

Seit 2001 steht die Gruppe auf der Terrorliste der UNO. Bis 2009 war sie Teil von "Al-Qaida im Maghreb" (AQIM). Nach der Eroberung der Gaddafi-Residenz Bab al-Asisija soll Belhaj als Anführer von einigen Hundert Kämpfern der LIFG gerufen haben: "Das wurde mir gegeben, wie einst dem Propheten Mekka geschenkt wurde." Kampferfahrene Islamisten spielten beim Sieg der Revolution über das Gaddafi-Regime eine entscheidende Rolle.

"Roadmap" zur Demokratie

Recep Tayip Erdogan (links) und Mustafa Abdel Jalil in Tripolis; Foto: dpa
Neues Idol für Libyens demokratischen Aufbau: "Wir wollen ein demokratisches, islamisches Land nach dem Vorbild der Türkei werden", so Mustafa Abdel Jalil (rechts) beim jüngsten Besuch des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan in Tripolis.

​​Libyen soll ein demokratischer Staat werden, der auf Parlament und Parteinpluralismus basiert. Der Islam wird Staatsreligion, die Scharia, das islamische Rechtssystem, soll Gesetzesgrundlage werden. Der NTC hat eine "Roadmap" festgelegt, wie der Übergang zur Demokratie vor sich gehen soll. Zu allererst müsse es eine "Erklärung der Befreiung" geben. Danach soll eine "Öffentliche Nationale Versammlung" folgen.

Sie fungiert als Übergangsregierung und ernennt ein Gremium, die eine neue Verfassung erarbeitet. Es ist eine Frist von 20 Monaten für die gesamte Übergangsphase vorgesehen, die mit freien Wahlen abgeschlossen wird.

Auf dem Papier liest sich das gut. Nur schwebt vieles noch in der Luft: Der Fahrplan in Richtung Demokratie ist ohne die "Erklärung der Befreiung" nicht möglich. Und diese ist wiederum, wie Mustafa Abdel Jalil, der Vorsitzende des NTC betätigte, von der Verhaftung oder dem Tod Gaddafis abhängig. Sein Regime ist gefallen, aber der Diktator beeinflusst noch immer, wenn auch indirekt, die Geschicke Libyens.

Verständlich, dass dieser Punkt auch bei der Beratung des NTC über die Neuformierung eines Kabinetts kontrovers diskutiert wurde. Nähere Einzelheiten wurden darüber nicht bekannt. Genauso wenig wie eine vorläufige Liste der Ministerposten. Es ist fast schon als absurd zu bezeichnen, den politischen Neubeginn Libyens und die "Erklärung der Befreiung" an die Person Gaddafis zu knüpfen.

Der Ex-Diktator ist zwar auf der Flucht, wann er aber gefangen oder getötet wird, ist völlig ungewiss. Sollte er sich, wie sein Sohn Saadi und andere Galionsfiguren des Regimes, nach Niger oder in ein anderes afrikanisches Land absetzen, kann es Monate oder sogar Jahre dauern, bis er ausgeliefert wird. Eine Zeit, die Libyen für den Neuaufbau nutzen sollte.

Je länger gewartet wird, desto wahrscheinlicher sind Konflikte innerhalb des NTC. Sie können zwischen Islamisten und Säkularisten entstehen, zwischen den Stämmen oder mit ethnischen Minderheiten, wie den Amazigh, die im bergigen Westen des Landes leben und maßgeblich an der Eroberung der Hauptstadt Tripolis beteiligt waren.

Bis an die Zähne bewaffnet

"In Libyen gibt es mindestens zehn Mal, wenn nicht 100 Mal mehr Waffen als im Irak unter Saddam Hussein", meint Peter Bourckaert von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Auf seinen Erkundungstouren in Tripolis habe er "so unglaublich viele Waffenlager" gesehen, "wie sonst nirgendwo." Und alle seien längst nicht entdeckt.

Tonnenweise wurden Munitionskisten und Waffen aus den Kasernen der libyschen Armee abtransportiert. Darunter auch deutsche Gewehre vom Typ G-36 der Marke Heckler & Koch, mit denen die Bundeswehr ausgerüstet ist. Geplündert wurde auch ein Depot mit 100.000 Panzerabwehrwaffen und Anti-Personen-Minen. Nur ein Teil wurde von den Rebellen in Besitz genommen. Wohin der Rest verschwunden ist, bleibt offen.

Ungeklärt ist ebenfalls der Verbleib von etwa 20.000 Sam-Raketen. Mit ihnen kann man Verkehrsflugzeuge, Militärhubschrauber und sogar Kampfjets abschießen. Die Rakete ist russischen Fabrikats und erkennt ihr Ziel über dessen Hitzeentwicklung.

"Das sind die Art von Waffen, die islamistische Gruppen gerne haben wollen", resümiert HRW-Mann Bouckaert. 2002 hatte Al-Qaida mit einer dieser Raketen versucht, eine israelische Chartermaschine in Mombasa abzuschießen. Die Rakete verpasste die Maschine nur knapp.

Alfred Hackensberger

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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de