Nach Anschlägen von Paris: Berater gegen Radikalisierung stark gefragt

Was tun, wenn der Sohn oder die Tochter sich plötzlich radikalen islamistischen Predigern anschließt? Eine Hotline beim Bundesamt für Migration hilft betroffenen Angehörigen. Seit der Terrorserie von Paris ist die Zahl der Anfragen sprunghaft gestiegen.

Seit den Terroranschlägen von Paris glühen die Telefondrähte bei der Radikalisierungs-Hotline des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Während sich normalerweise etwa drei bis fünf Menschen pro Woche an die Berater wendeten, seien es in dieser Woche drei bis fünf Fälle pro Tag gewesen, sagte Florian Endres von der Beratungsstelle Radikalisierung in Nürnberg. «Wir stellen einen wahnsinnigen Anstieg fest.»

Ähnlich viele Anfragen habe es nach den Anschlägen auf das Satiremagazin «Charlie Hebdo» im Januar gegeben. Die Berater helfen Familien, in denen Jugendliche in die islamistische Szene abdriften. Häufig geht es um junge Männer und Frauen, die nach Syrien oder in den Irak ausreisen wollen oder sogar schon ausgereist sind. «Viele aktuelle Fälle sind hochgradig sicherheitsrelevant», berichtete Endres. Daher arbeite die Beratungsstelle eng mit den Sicherheitsbehörden zusammen und gebe die Informationen weiter. «Das ist den Anrufern auch klar. Viele waren vorher auch schon bei der Polizei und haben unsere Nummer dort bekommen.»

Rund die Hälfte der Anrufe komme aus dem engen familiären Umfeld der Jugendlichen - meistens wenden sich verzweifelte Mütter an die Berater. «Die sind völlig verunsichert und verstört und haben einen hohen Leidensdruck.» Für viele sei es ein Schock, wenn plötzlich die Polizei vor der Tür stehe oder sie erfahren, dass ihr Kind bereits ausgereist sei.

«Manche Jugendlichen verhalten sich so konspirativ, dass die Eltern davon gar nichts mitbekommen», sagte Endres. Sie sagten etwa, dass sie einen Freund besuchten und stattdessen machten sie sich auf den Weg in die Türkei oder nach Syrien.

Im Schnitt sind die Jugendlichen, die sich radikalen Salafisten anschließen oder in den Dschihad ziehen wollen, nach Endres' Angaben 18, 19 Jahre alt. «Aber in der Tendenz werden sie durchaus jünger - wir haben mittlerweile auch Fälle von 15-, 16- oder 17-Jährigen, die ausreisen wollen», sagte er. In etwas mehr als einem Viertel der Fälle gehe es um Mädchen. Aber auch hier stiegen die Zahlen. «In den ersten zweieinhalb Jahren war das noch eher ein Randphänomen, doch inzwischen hat auch die Zahl der Syrien-Ausreisen von Mädchen zugenommen.»

Betroffen seien bei weitem nicht nur Familien mit ausländischen Wurzeln oder islamischem Glauben, betonte Endres. «Die Fälle mit Migrationshintergrund machen etwa 45 bis 50 Prozent aus.» Es handle sich um ein «gesamtgesellschaftliches Phänomen», bei dem genauso der Akademiker-Haushalt betroffen sei wie die alleinerziehende Mutter mit drei Kindern. In vielen Familien habe die Religion gar keine Rolle gespielt. «Die Jugendlichen bringen daher kaum religiöses Wissen mit, und das macht es den Predigern sehr leicht, ihnen irgendwas einzureden», erklärte der Berater.

Bei vielen der betroffenen Jugendlichen fehle es daher auch an «Ansätzen, so etwas kritisch zu hinterfragen». «Und dann bekommen die von Predigern schnell ganz viel Wissen und Regeln an die Hand, und damit können sie ihrem Umfeld stark zusetzen.» Gerade in muslimischen Familien würden andere Familienmitglieder als Ungläubige verteufelt oder permanent kritisiert - etwa weil eine Frau kein Kopftuch trage.

Knapp 2.000 Anrufer haben sich bisher mit Hilferufen an die Berater gewandt. Aus diesen Anfragen ergaben sich bislang bundesweit mehr als 780 Beratungsfälle. Die Hotline gibt es seit Anfang 2012. Die Mitarbeiter in Nürnberg vermitteln die Anrufer an eine der regionalen Beratungsstellen. Etwas mehr als 30 Berater gehören dem Netzwerk inzwischen an.

Die Experten versuchen dann, die gestörte Kommunikation zwischen Eltern und Kindern zu kitten. Aber auch Lehrer, Freunde, der Sportverein oder Moschee-Gemeinden werden eingebunden. Manchmal seien sogar eher Lehrer eine Vertrauensperson des Jugendlichen, weil sie neutraler seien als die Eltern.

«Die Berater versuchen daher, alle an einen Tisch zu setzen», erläuterte Endres. Mehr als 750 radikale Islamisten aus Deutschland sind bislang in das Kampfgebiet nach Syrien und in den Irak ausgereist. Die Zahl wächst seit langem. Viele haben sich dort der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) angeschlossen. (dpa)

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