Weltoffen und weiblich

Avicenna ist das erste muslimische Studienwerk in Deutschland, das staatlich gefördert wird. Es unterstützt begabte und sozial engagierte Frauen und Männer aller Fachrichtungen. Arnd Zickgraf informiert.

Von Arnd Zickgraf

Sie dolmetschen, verteilen Kleidung und erklären den Neuankömmlingen, wie die Menschen in Deutschland leben: Viele Stipendiaten des Avicenna-Studienwerks unterstützen ehrenamtlich Flüchtlinge. Manche von ihnen sind einst selbst mit ihren Familien nach Deutschland geflohen. "Aufgrund ihrer sprachlichen und interkulturellen Kompetenzen können sie als Übersetzer und erste Ansprechpartner dienen und damit den Integrationsprozess erleichtern und beschleunigen", sagt Hakan Tosuner, Geschäftsführer des Avicenna-Studienwerks.

Das erste staatlich geförderte muslimische Studienwerk in Deutschland wurde 2012 gegründet. Es ist damit das jüngste der 13 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) anerkannten Begabtenförderungswerke. "Nach der Förderung von vier Zentren für islamische Studien in Deutschland ist das muslimische Studienwerk ein weiterer wichtiger integrationspolitischer Schritt der Bundesregierung", so Bildungsministerin Johanna Wanka.

Die Vielfalt des muslimischen Lebens abbilden

Seit 2014 unterstützt Avicenna mit seinen Stipendien talentierte und sozial engagierte muslimische Studierende und Doktoranden. Das BMBF fördert das Studienwerk bis 2018 mit rund zehn Millionen Euro, die Stiftung Mercator steuert in der Aufbauphase eine Million Euro bei. In geringerem Umfang sind auch zwei der islamischen Dachverbände in Deutschland, Ditib und der Zentralrat der Muslime, sowie weitere Akteure der muslimischen Gemeinde beteiligt. Mittelfristig soll deren finanzielle Unterstützung ausgeweitet werden.

Vorstellung des Begabtenförderwerk Avicenna in Berlin; Foto: Michael Kappeler/dpa
Das Avicenna-Studienwerk ist nach einem persischen Gelehrten aus dem 11. Jahrhundert benannt. Avicenna gilt als wichtiger Mittler zwischen Orient und Abendland. Muslimische Studierende an deutschen Hochschulen können seit dem Wintersemester 2014/15 mit einem einkommensabhängigen Grundstipendium von bis zu 670 Euro im Monat und einer zusätzlichen Studienkostenpauschale von 300 Euro gefördert werden. Promovierende erhalten pro Monat bis zu 1.150 Euro.

Die Stipendiaten erhalten einen Grundbetrag von bis zu 670 Euro im Monat und eine Studienkostenpauschale von 300 Euro. Promovierende bekommen 1.150 Euro im Monat. Seminare zu religionsbezogenen Themen ergänzen das Angebot. Neben dem muslimischen Glauben und überdurchschnittlichen Leistungen zählt bei der Bewerbung auch soziales Engagement. Keine Rolle spiele dagegen etwa die Frage, ob jemand Sunnit oder Schiit sei, so Geschäftsführer Tosuner. "Weder erfassen wir die religiöse Ausrichtung in den Bewerbungsunterlagen, noch fragen wir in den Auswahlgesprächen danach." Sowohl in der Zusammensetzung der Ausschüsse des Studienwerks als auch bei der Auswahl der Stipendiaten seien die Verantwortlichen bemüht, die Vielfalt der muslimischen Gemeinde abzubilden.

Warum eine Förderung nach Religion?

Doch sollte es überhaupt eine staatliche Förderung begabter Studierender nach religiöser Zugehörigkeit geben? Unter den vom BMBF unterstützten Studienwerken sind auch solche mit katholischer und evangelischer Ausrichtung. Der Humanistische Verband Deutschlands sieht darin eine Benachteiligung konfessionsloser junger Menschen. "Studierende, die kein Bekenntnis zum christlichen, jüdischen oder islamischen Glauben teilen, sind erkennbar im Nachteil gegenüber religiös orientierten Studenten und Studentinnen", heißt es dort. Dabei trügen nichtreligiöse Steuerzahler genauso zum Etat des Bundesbildungsministeriums bei wie andere Bürger.

Die Befürworter der staatlichen Unterstützung konfessioneller Studienwerke dagegen argumentieren, diese Organisationen bildeten Pluralität ab und übernähmen wichtige gesellschaftliche Aufgaben wie die Förderung sozial benachteiligter junger Menschen. Zudem betonen die Befürworter den Aspekt der Integration. Die Stipendiaten setzten sich für eine offene, inklusive und vielfältige Gesellschaft ein, in der verschiedene Lebensentwürfe respektiert und Ambivalenzen toleriert werden.

Hakan Tosuner, Leiter der Geschäftsstelle des Avicenna-Studienwerks; Foto: Avicenna Studienwerk
"Die meisten Stipendiaten sind ehrgeizige Bildungsaufsteiger, die aus sozio-ökonomisch schwierigen Verhältnissen stammen", erklärt Hakan Tosuner, Leiter der Geschäftsstelle des Avicenna-Studienwerks.

Oft die ersten Akademiker in der Familie

Avicenna fördert grundsätzlich Studierende aller Fachrichtungen, doch viele Stipendiaten studieren Fächer wie Medizin, Jura oder Wirtschaftswissenschaften. Die meisten Stipendiaten sind in ihren Familien die Ersten, die studieren. "Sie sind ehrgeizige Bildungsaufsteiger, die aus sozio-ökonomisch schwierigen Verhältnissen stammen", so Geschäftsführer Tosuner. Das Studienwerk hat 2014 erstmals 65 Stipendien vergeben, 2015 noch einmal 80. "Wir planen, im Jahr 2018 einen Pool von 500 Stipendiaten und Stipendiatinnen zu haben."

Derzeit sind die meisten Geförderten Frauen. Neben hervorragenden akademischen Leistungen übernehmen die Stipendiaten auch soziale Verantwortung: Sie bringen sich in Moscheegemeinden ein, arbeiten in Hochschulgremien, Bildungs- und Jugendeinrichtungen sowie Sportvereinen mit. Eine Stipendiatin mit Übungsleiterlizenz trainiert eine Mädchenmannschaft im Fußball.

Auch Yunus Emre Güllü ist Stipendiat, er studiert Publizistik in Berlin. In Avicenna sieht er eine große Chance für junge Muslime, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden: "Es macht keinen Sinn, sich für ausbleibenden Erfolg und fehlende Perspektiven einen Sündenbock zu konstruieren." Junge Muslime hätten es selbst in der Hand. Die Förderung durch Avicenna sei auf diesem Weg eine wichtige Hilfe.

Arnd Zickgraf

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