Merkel spricht mit Erdogan über Krise beim Flüchtlingspakt

Kanzlerin Angela Merkel will an diesem Montag mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan Wege aus dem Streit über den Flüchtlingspakt der EU mit der Türkei suchen. Zugleich dürfte sie bei dem Treffen in Istanbul den Beschluss des türkischen Parlaments ansprechen, gut einem Viertel der Abgeordneten die Immunität gegen strafrechtliche Verfolgung abzuerkennen.

Merkel kündigte an, über «alle wichtigen Fragen» zu reden. Über die innenpolitischen Entwicklungen in der Türkei äußerte sich die Kanzlerin in der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung» besorgt. Merkel machte aber deutlich, dass sie dennoch auf die Umsetzung des EU-Flüchtlingspaktes mit der Türkei baut. Die Kritik aus der EU an Erdogans zunehmend autoritärer Politik dauert indes an.

Die Bundesregierung geht nach einem Bericht der «Bild»-Zeitung (Montag) nicht mehr davon aus, dass die Visafreiheit für die Türkei zum 1. Juli umgesetzt werden kann. Die Zeitung zitierte unter Berufung aus Regierungskreisen, dass Ankara die für die Visafreiheit nötigen Voraussetzungen nicht vor Jahresende erfüllen könne. Ein Grund seien die festgefahrenen Verhandlungen zwischen EU und Türkei über die Umsetzung der Bedingungen für die Visafreiheit.

«Wir erleben, dass die Türkei unter Erdogan auf dem Weg in einen Ein-Mann-Staat ist», sagte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) dem «Kölner Stadt-Anzeiger» (Montag). «Die Bundeskanzlerin und die EU-Regierungschefs müssen dem türkischen Präsidenten ganz klar sagen, dass seine Politik nicht mit den europäischen Grundwerten vereinbar ist.» CSU-Chef Horst Seehofer sagte im ARD-«Bericht aus Berlin» zur Entwicklung in der Türkei: «Da müsste die ganze Welt aufschreien.»

Nach ihrer Ankunft in Istanbul am Sonntagabend beriet sich Merkel ungewöhnlich lange mit Vertretern der türkischen Zivilgesellschaft. Bei dem Treffen sei es um die politische und gesellschaftliche Lage, die Kurden, die Entwicklung des Rechtsstaats sowie um die Kooperation in der Flüchtlingspolitik gegangen, hieß es aus Teilnehmerkreisen.

Auch die EU-Beitrittsverhandlungen seien Thema gewesen. Das für 60 Minuten angesetzte Gespräch dauerte insgesamt gut zwei Stunden. Anlass von Merkels Reise ist der erste UN-Nothilfegipfel in Istanbul, der am Montagmorgen beginnt. Das Augenmerk liegt aber auf ihrem Treffen mit Erdogan am Nachmittag. Die möglichen Konfliktpunkte – und wie wahrscheinlich es ist, dass sie angesprochen werden: 

FLÜCHTLINGSPAKT: Erdogan hat indirekt gedroht, den Flüchtlingspakt zu kippen. Hintergrund ist eine EU-Forderung, die Anti-Terror-Gesetze der Türkei zu reformieren, damit sie nicht politisch missbraucht werden. Ohne Reform will die EU die Visumpflicht für Türken nicht aufheben. Merkel will wissen, wie Erdogan zu dem Thema steht.

PARLAMENT: Auf Betreiben Erdogans hat das Parlament beschlossen, Abgeordneten die Immunität zu entziehen. Betroffen ist vor allem die pro-kurdische HDP, der Erdogan Terrorvorwürfe macht. Parlamentariern droht jetzt Strafverfolgung. Merkel hat sich darüber öffentlich sehr besorgt gezeigt - sie dürfte das Thema nicht aussparen.

PRESSEFREIHEIT: Kürzlich wurden zwei kritische Journalisten der Zeitung «Cumhuriyet» zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Andere Medien wurden auf Regierungskurs gezwungen. Erdogan meint dennoch, türkische Medien seien frei. Merkel hat sich schon am Vorabend mit Journalisten getroffen - das Thema Meinungsfreiheit ist ihr wichtig.

ARMENIER: Am 2. Juni will der Bundestag eine Resolution beschließen, mit der die Gräuel an den Armeniern im Osmanischen Reich vor gut 100 Jahren als «Völkermord» eingestuft werden. Die Türkei lehnt das strikt ab. Unklar ist, ob der Punkt jetzt schon zum Thema wird. Neuer Streit mit Ankara ist aber auf jeden Fall programmiert.

BÖHMERMANN-AFFÄRE: Erdogan hat sich öffentlich nicht über das Schmähgedicht des ZDF-Moderators Jan Böhmermann geäußert, aber dagegen geklagt. Merkel nannte ihre Äußerung, Böhmermanns Gedicht sei «bewusst verletzend», später einen Fehler. Von sich aus dürfte Merkel diesen Punkt nicht ansprechen, sie sieht die Justiz am Zuge. (dpa)