Merkel setzt Fahnen der «Humanität» auf die Zinnen der Festung Europa

Vier Jahre lang hat sie ihn nicht in Berlin empfangen. Jetzt steht Orban neben Merkel im Kanzleramt: unbequem und rechthaberisch. Die Gastgeberin ist in Europa mit ihrer liberalen Flüchtlingspolitik in die Defensive geraten. Doch klein beigeben will sie trotzdem nicht. Von Anne-Beatrice Clasmann und Matthias Röder

Raumgreifend und voller Genugtuung tritt Ungarns Regierungschef Viktor Orban in Berlin vor die Presse. Er freut sich über eine Entwicklung, die Beobachter «Orbanisierung» der EU-Migrationspolitik nennen: die weitgehende Abkehr von dem Prinzip, dass die Verfolgten und Geplagten in Europa Aufnahme finden sollen.

Man könnte auch von einer «Entmerkelung» sprechen. Denn Kanzlerin Angela Merkel war in den EU-Debatten zur Flüchtlingsfrage über Jahre die wichtigste Verfechterin des «humanitären Imperativs». Jetzt steht sie hier und dankt Orban für den Zaun, den er an Ungarns Südgrenze gebaut hat, um Migranten abzuhalten.

«Wir nehmen Deutschland eine immense Last von den Schultern, dadurch dass wir niemanden Ungarn betreten lassen», betont Orban. Politisch profitiert hat die CDU-Vorsitzende von diesem Zaun schon länger. Orbans Schätzung, ohne den Zaun würden «täglich 4.000 bis 5.000 Migranten nach Deutschland kommen», ist vielleicht etwas gewagt. Doch alleine der Deal zwischen der EU und Türkei hätte die Zahl der Asylbewerber hierzulande sicher nicht so stark sinken lassen.

Das Umschwenken der deutschen Bundesregierung auf eine härtere Linie im Umgang mit Flüchtlingen und Migranten empfindet Orban als späte Anerkennung seiner Politik der Abschottung und Abschreckung. «Orban ist dank seiner konsequenten Haltung in der Migrationspolitik erstarkt, während Merkel nicht mehr Herrin im eigenen Haus ist», kommentiert der für die Regierung tätige Politologe Bank Levente Boros im ungarischen Staatsfernsehen.

Doch ganz auf Orbans Migrationsverhinderungskurs einschwenken will Merkel nicht. Sie betont, Humanität sei immer noch die «Seele» Europas. Und dass man Studienplätze und Arbeitsvisa anbieten solle, damit afrikanische Staaten helfen, die illegale Migration über das Mittelmeer zu begrenzen. Das sind Ideen, die Migrationsgegner Orban ablehnt. Er sagt: «Wir wollen keine Probleme importieren.»

Eine Zusage, dass Ungarn Asylbewerber zurücknimmt, die dort bereits einen Asylantrag gestellt haben, kann Merkel dem sperrigen Gast aus Budapest nicht abringen. Das hat auch Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) nicht geschafft, der ihn am Vortag getroffen hat.

Überhaupt dämmert Seehofer jetzt, dass es mit den Transitzentren und Zurückweisungen an der deutsch-österreichischen Grenze womöglich doch noch komplizierter werden könnte, als er sich das vorgestellt hat.

Die CDU hat er zwar dazu gebracht, diesem Punkt aus seinem «Masterplan Migration» zuzustimmen. Doch wenn dann auch noch die SPD Zusicherungen einfordert und Italien nicht mitzieht, dürfte von dem, was die CSU ursprünglich vorhatte, nicht mehr viel übrig bleiben. Zu allem Überfluss warf ihm der AfD-Bundestagsabgeordnete und ehemalige Polizist Martin Hess am Morgen vor, er, Seehofer, habe die «historische Chance, die Herrschaft des Unrechts» an der Grenze zu beenden, vertan, weil es ihm an «Durchsetzungskraft» gefehlt habe.

Als der CSU-Vorsitzende am Nachmittag mit Österreichs Kanzler Sebastian Kurz und dessen Innenminister Heinz-Christian Strache vor die Presse tritt, hat er eigentlich einen starken Verbündeten an seiner Seite. Kurz ist auch dank seines Anti-Migrationskurses in der Alpenrepublik zum Regierungschef geworden. In den vergangenen Tagen schien die Eintracht zwischen Seehofer und dem 31-Jährigen aber gefährdet. Als Zumutung wurden in Wien die Pläne empfunden, bestimmte Migranten aus deutschen Transitzentren einfach wieder nach Österreich zurückzuschicken.

Die Anspannung von Seehofer und Kurz nach dem 80 Minuten dauernden Gespräch ist unübersehbar. Der gemeinsame Auftritt an diesem Tag ist keine Selbstverständlichkeit, sondern hing am seidenen Faden. Statt über die heiklen Details deutscher Transitzentren zu reden, finden der alte Polit-Haudegen und der junge Überflieger aber eine möglicherweise populäre Formel: die Schließung der Mittelmeer-Route.

Das Thema ist nicht ganz neu und angesichts deutlich zurückgegangener Flüchtlingszahlen auch nicht wirklich brisant. Aber Kurz und Seehofer wollen die Gunst der Stunde nutzen. «Es hat sich so viel bewegt wie in den letzten Jahren nicht», meinte Kurz mit Blick auf die immer kritischer werdenden Töne zur Zuwanderung in der EU und Deutschland.

Die «Achse der Willigen» zwischen Berlin, Wien und Rom, die Kurz kürzlich ausrief, will sich am Rande des EU-Innenministertreffens nächste Woche in Innsbruck verabreden. Keine guten Vorzeichen für alle, die weiterhin auf freie Fahrt speziell am österreichisch-italienischen Grenzpass Brenner hoffen. (dpa)