Arabische Jugend – Zuversicht trotz Krise

Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt: Jugendliche in arabischen Ländern sind trotz zahlreicher Krisen optimistisch, aber von der Politik erwarten sie nichts mehr. Fragen an Mitherausgeber Jörg Gertel.

Von Christoph Hasselbach

Herr Professor Gertel, was ist die größte Überraschung der MENA-Jugendstudie der Friedrich-Ebert-Stiftung?

Jörg Gertel: Für mich persönlich ist es der Gegensatz, dass auf der einen Seite die ökonomische, politische und die sicherheitspolitische Situation in diesen Ländern extrem instabil erscheint, dass die Jugendlichen aber auf die Frage, wie sie sich fühlen und wie sie die Zukunft sehen, sehr optimistische Antworten gegeben haben.

Wie erklären Sie sich das?

Gertel: Es gibt hier eine zweigeteilte Antwort. Die Eltern dieser Jugendlichen sind zu einer Zeit in den Arbeitsmarkt eingetreten, als der noch relativ stark mit staatlichen Jobs abgesichert war. Diese Jugendlichen sind besser gebildet als ihre Eltern, manche wohnen noch bei den Eltern, manche sind schon ausgezogen. Und das ist eine wichtige Unterscheidung: Diejenigen, die noch bei den Eltern leben, fühlen sich aufgehoben und schätzen ihre ökonomische Situation als gut ein. Diejenigen aber, die bereits ausgezogen sind und eine eigene Familie gegründet haben, sagen, es gehe ihnen schlecht, teilweise sehr schlecht. Das heißt, in dem Moment, in dem man in eine eigene ökonomische Verantwortung tritt und auch für andere sorgen muss, verändert sich die Einschätzung deutlich.

Trotz allem blicken im Durchschnitt 65 Prozent der Jugendlichen zuversichtlich in die Zukunft. Bedeutet das auch, dass eben doch nicht die meisten auf gepackten Koffern sitzen und unbedingt nach Europa auswandern wollen?

Prof. Dr. Jörg Gertel von der Universität Leipzig; Foto: Friedrich-Ebert-Stiftung
"Man sieht sehr genau, wie ein gegenseitiger Austausch und ein Voneinanderlernen zwischen muslimischen und nichtmuslimischen Jugendlichen in Deutschland funktioniert und wie sich das in den jeweiligen Werten durchschlägt. Hier findet eine Wertedurchmischung statt. Sieht man sich die Werterangfolge an, zeigt sich, dass die deutschen Muslime ähnliche Wertvorstellungen wie ihre Altersgenossen haben", sagt Prof. Dr. Jörg Gertel von der Universität Leipzig, Mitherausgeber der Studie.

Gertel: Das ist eines der spannendsten Ergebnisse der Studie: Zwischen der Hälfte und zwei Dritteln sagen, eine Migration komme für sie keinesfalls infrage. Nur sieben Prozent wollen auswandern. Etwa ein Drittel ist unentschieden.

Die Erfahrungen des Arabischen Frühlings spielen bei den Jugendlichen eine große Rolle. Hat die Jugend in diesen Ländern den Glauben an demokratische Reformen verloren?

Gertel: Was man ganz deutlich sehen kann ist, dass sich fast niemand mehr politisch engagieren mag, und zwar parteipolitisch engagieren. Auf den Werteskalen steht ganz oben, dass die jungen Leute Vertrauen auf Gott haben. Aber dieser Glaube ist nicht mehr politisch, sondern eine Privatangelegenheit, während sie den Politikern zutiefst misstrauen. Mit ihnen wollen sie nichts zu tun haben. Hier ist eine ganz große Distanz entstanden.

Wenn Religion für die jungen Leute eine größere Rolle spielt, muss man das auch als wachsende Gefahr von Islamismus sehen?

Gertel: Ganz im Gegenteil. Diejenigen, denen es wirklich schlecht geht, vertrauen, wenn überhaupt, noch zwei großen Institutionen: einmal der Familie; sie steht meistens bereit und leistet, soweit es geht, noch Unterstützung. Und in ganz gravierenden Fällen wie in den Hungersituationen im Jemen, wenn selbst die Solidaritätsstrukturen der Familien das nicht mehr auffangen können und jeder zusieht, wie er überlebt, dann bleibt vielen Menschen nur noch das Vertrauen auf Gott. Und die Studie zeigt, dass dies von vielen als persönliche Angelegenheit verstanden wird, in die sich niemand einmischen sollte.

Tunesische Jugendliche; Foto: DW
In acht Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas führte die Friedrich-Ebert-Stiftung 2016/2017 eine große repräsentative Umfrage unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen durch. Die Ergebnisse bieten aufschlussreiche Einblicke in Lebensgefühl, Selbstverständnis und Zukunftsvorstellungen von rund 9.000 jungen Menschen zwischen 16 und 30 Jahren aus Ägypten, Bahrein, Jemen, Jordanien, Libanon, Marokko, Palästina, Syrien und Tunesien.

Die Shell-Studie beschreibt regelmäßig die Jugend in Deutschland. Liegen Welten zwischen den Erfahrungen und Vorstellungen deutscher Jugendlicher und denen ihrer arabischen Zeitgenossen, oder gibt es auch Parallelen?

Gertel: Es gibt einige Unterschiede, aber auch große Parallelen. Bei den arabischen Jugendlichen steht bei den Werten, wie gesagt, der Glaube an Gott an erster Stelle. Den deutschen Jugendlichen ist es vor allem wichtig, dass sie einen Partner haben, dem sie vertrauen können, und dass sie gute Freunde haben, die sie akzeptieren, wie sie sind. Sie lehnen vor allem Konformität ab. Die Schnittmengen liegen in Bereichen wie Achtung von Recht und Ordnung, ein gutes Familienleben führen, hart arbeiten, Ehrgeiz entwickeln. Selbst das Tolerieren einer anderen Meinung und die Unterstützung von gesellschaftlich Ausgegrenzten erzielt etwa den gleichen Rang in beiden Gruppen, da liegen die deutschen und arabischen Jugendlichen sehr eng beieinander.

Wie sieht es mit in Deutschland lebenden Muslimen aus?

Gertel: Wir haben sie mit jungen Muslimen in arabischen Ländern verglichen. Und man sieht sehr genau, wie ein gegenseitiger Austausch und ein Voneinanderlernen zwischen muslimischen und nichtmuslimischen Jugendlichen in Deutschland funktioniert und wie sich das in den jeweiligen Werten durchschlägt. Hier findet eine Wertedurchmischung statt. Sieht man sich die Werterangfolge an, zeigt sich, dass die deutschen Muslime ähnliche Wertvorstellungen wie ihre Altersgenossen haben.

Das Interview führte Christoph Hasselbach.

© Deutsche Welle 2018

Prof. Dr. Jörg Gertel von der Universität Leipzig ist Mitherausgeber der Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung "Zwischen Ungewissheit und Zuversicht - Jugend im Nahen Osten und Nordafrika".