Die eingesperrte türkische Presse

Nach Informationen von Menschenrechtsaktivisten saßen in der Türkei seit dem Ende des Militärregimes 1983 noch nie so viele Journalisten im Gefängnis wie im vergangenen Jahr. Aryeh Neier, Gründungsmitglied von "Human Rights Watch", kritisiert den Zustand der Pressefreiheit in der Türkei, der seiner Meinung nach im Widerspruch zur Lage der Menschenrechte im Land steht.

Von Aryeh Neier

Die beiden regierungsfreundlichen Zeitungen der Türkei, Star und Yeni Akit, und Premierminister Recep Tayyip Erdoğan selbst sind der Ansicht, diejenigen, die den Zustand der Pressefreiheit in der Türkei anprangern, seien "Terroristen". Diesen Begriff verwendeten sie kürzlich, um das New Yorker "Komitee zum Schutz von Journalisten" und die Organisation "Reporter ohne Grenzen" zu denunzieren, die Berichte veröffentlicht hatten, denen zufolge in der Türkei mehr Journalisten eingesperrt sind als im Iran oder in China.

Im letzten Oktober berichtete das New Yorker Komitee von 76 inhaftierten Journalisten in der Türkei, darunter 61 aufgrund ihrer journalistischen Arbeit. Nachdem mittlerweile einige von ihnen gerichtlich freigesprochen wurden, ging diese Zahl zwar bis zum Dezember auf 49 zurück, aber damit sind nach wie vor zahlreiche Medienvertreter hinter Gittern.

Nachlassende Toleranz

Dies ist befremdend und besorgniserregend – angesichts der Tatsache, dass sich die Lage der Menschenrechte in der Türkei unter Erdoğans Führung insgesamt deutlich verbessert hat: So ging die Zahl der Folterungen deutlich zurück, die kulturellen Rechte der kurdischen Minderheit, die jetzt das Recht hat, ihre eigene Sprache zu benutzen, wurden gestärkt und auch die militärische Kontrolle über die Zivilregierung wurde beendet.

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan; Foto: AP
Zwischentöne unerwünscht: Während Erdoğan und seine moderat islamistische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung ihre Macht und ihren Einfluss im Land konsolidierten, ließ ihre Toleranz gegenüber kritischen Medien nach.

​​Und trotzdem: Während Erdoğan und seine moderat islamistische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung ihre Macht und ihren Einfluss im Land konsolidierten, ließ ihre Toleranz gegenüber kritischen Medien nach.

Heute ist die Freiheit des Internets weitgehend verschwunden. Die Gesetze erlauben die Zensur von Inhalten, und viele Webseiten wurden blockiert, da sie angeblich den Drogenmissbrauch fördern oder sich gegen Atatürk, den Gründer des modernen türkischen Staates, wenden.

Die Verantwortung des Westens

Obwohl die Schuld am desolaten Zustand der Pressefreiheit im Land die türkische Regierung trägt, sind auch die EU und die Vereinigten Staaten hierfür mitverantwortlich. Die Europäische Union ließ verlauten, die Menschenrechte seien ein entscheidender Faktor dafür, ob die Türkei als Mitglied angenommen würde. Trotzdem schien Europa gerade in der Phase des raschen Fortschritts in der Türkei bei diesem kritischen Thema eher wegzuschauen.

Dadurch wurden diejenigen Aktivisten, die sich in der Türkei für Reformen zur Stärkung der Menschenrechte eingesetzt hatten, geschwächt. Ihre Behauptungen, Verbesserungen würden zu Fortschritten bei den Beitrittsverhandlungen führen, erwiesen sich letztlich als falsch, und die Beamten verloren einen wichtigen Anreiz. Sollte der Prozess der EU-Beitrittsverhandlungen erneut an Fahrt gewinnen, würde er die Bemühungen der Türkei, eine offene Gesellschaft zu werden, deutlich unterstützen.

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, Foto: picture alliance/JOKER
Rüge für die AKP-Regierung: Die Türkei habe mit dem Verbot mehrerer Zeitungen und Zeitschriften wegen "Propaganda" für illegale Organisationen - darunter die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) - gegen die Pressefreiheit verstoßen, so ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom vergangenen Januar.

​​Die US-Regierung wiederum neigt in Bezug auf Menschenrechtsverletzungen in der Türkei zu einer sehr nachgiebigen Position. Während des Kalten Krieges war die Türkei angesichts ihrer geographischen Nähe zur Sowjetunion aus geostrategischen Gesichtspunkten ein wichtiger Partner, weshalb alles andere eine untergeordnete Rolle spielte.

Heute ist der geographische Faktor noch immer wichtig. Doch anders als früher ist es nun die Nähe zu Syrien, dem Irak und dem Iran, die die Vereinigten Staaten davon abhalten, sich mit der Pressefreiheit in der Türkei kritisch auseinanderzusetzen. Die USA haben die Aufnahme der Türkei in die EU zwar unterstützt, aber ihre Bemühungen wären in Europa glaubwürdiger gewesen, wenn sie das Land auch auf seine Schwächen angesprochen hätten.

Perspektiven eines EU-Beitritts

Die Lage ist alles andere als hoffnungslos. Die Türkei verfügt über eine lebendige Zivilgesellschaft mit unabhängigen Institutionen, unter denen sich einige namhafte Universitäten befinden. Das Potenzial für rasche Fortschritte im Bereich der Presse- und Meinungsfreiheit ist daher immer noch vorhanden. Sollte die Türkei tatsächlich ein Mitglied der Europäischen Union werden, würde dies Europa gewiss wirtschaftlich und militärisch stärken. Und wenn das Land die politischen Kriterien wie die Garantie der Pressefreiheit erfüllt, sollte es sich erneut um Aufnahmeverhandlungen auf derselben Grundlage wie andere Mitgliedstaaten bemühen.

Mit John Kerry als Außenminister müssen die USA erkennen, dass ein so großes islamisches Land in einer instabilen Region in Fragen der Menschenrechte eine führende Rolle zu übernehmen hat. Um als Modell für die Region dienen zu können, ist es besonders wichtig, dass in der Türkei die Pressefreiheit garantiert werden kann. Wenn Europa und die USA ihre Aufgaben erfüllen, könnte auch Erdoğan davon überzeugt werden, die Menschenrechte und die Medien in seinem Land künftig mehr zu achten.

Aryeh Neier

Aryeh Neier ist Ehrenpräsident der "Open Society Foundations" und Gründungsmitglied von "Human Rights Watch”. Er ist Autor des Buchs "Taking Liberties: Four Decades in the Struggle for Rights".

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

© Project Syndicate 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de