Auf Messers Schneide

Der türkische Regierungschef gerät immer mehr unter Druck: Die Proteste gegen seine Politik und die milliardenschweren Großprojekte halten an, längst mehren sich kritische Stimmen auch aus dem eigenen Lager. Doch der "Sultan von Ankara"  lässt es auf eine Zerreißprobe ankommen, wie Jürgen Gottschlich berichtet.

Von Jürgen Gottschlich

Nach elf Jahren ununterbrochener Alleinregierung hat Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan mit seiner AKP in den letzten sechs Tagen erstmals eine schwere politische Niederlage einstecken müssen. Diese Niederlage hat ihm nicht etwa die Opposition bereitet.

Auch wenn Erdogan bei seinen zunehmend surreal werdenden öffentlichen Auftritten der letzten Tage immer wieder versucht, das Gespenst einer gegnerischen Verschwörung mit den alten Kemalisten und ausländischen Kräften zu beschwören, er kommt mit dieser Botschaft bei der Bevölkerung nicht mehr an. Wer in Istanbul und vielen anderen Städten der Türkei mit dabei war, weiß, dass es sich um Nonsens handelt.

Erstmals ging es in der Türkei nicht mehr um den seit Jahrzehnten eingeschliffenen Konflikt der autoritären Kemalisten gegen die Islamisten, es ging und geht um eine aufbegehrende Bürgergesellschaft, die nach persönlicher Freiheit und echter, partizipativer Demokratie verlangt.

Kommerz gegen Natur

Demonstration gegen Erdogan in Istanbul; Foto: Reuters
Vereint gegen Erdogans zweifelhafte Bauvorhaben: Die von der AKP gebildete Stadtregierung will auf dem Gelände des Gezi-Parks ein Kasernengebäude aus dem 18. Jahrhundert wieder errichten lassen, das 1940 abgetragen worden war. In dem neuen Gebäude sollen Cafés, Museen und ein Einkaufszentrum untergebracht werden. Die Demonstranten argumentieren, damit werde Istanbul eine der letzten Grünflächen in der Innenstadt verlieren.

​​Es ist ja kein Zufall, dass der Konflikt in der letzten Woche seinen Ausgang an einem Bauprojekt genommen hat, dass zunächst nichts mit Religion oder Kemalismus zu tun hat. Es ging um den letzten Park im zubetonierten Istanbul, wo Erdogan kraft eigner Machtvollkommenheit eine historische Kaserne wieder aufbauen will, in die dann ein Einkaufszentrum platziert werden soll – also Kommerz gegen Natur, in einer Stadt, in der einem das Atmen bald schwer fallen dürfte, wenn Erdogan alle seine Megaprojekte realisiert und die Regierung es nicht für nötig befindet, mit den Bürgern der Stadt über ihre Projekte zu reden.

Als sich aufgrund des harten Polizeieinsatzes dann immer mehr Menschen mit den Parkbesetzern solidarisierten, kamen auch andere Motive zum Vorschein. Dabei geht es im Kern um die Freiheit des Einzelnen, die Freiheit der Meinungsäußerung, die Freiheit, seinen Lebensstil selbst zu bestimmen.

Die Leute sind es leid, dass Erdogan ihnen vorschreiben will, wie viele Kinder sie bekommen sollen (mindestens drei), was moralisches Verhalten in der Öffentlichkeit bedeutet und vor allem, dass jeder der mal ein Bier trinkt gleich ein Alkoholiker ist. Es geht im Kern um Respekt, den Erdogan zunehmend vermissen lässt.

Die schleichende Islamisierung des Landes hat mit den spontanen Protesten der letzten Tage jetzt erstmals eine deutliche Reaktion hervorgerufen. Denn eines ist zu mindestens richtig. Die konservative Anhängerschaft der AKP ist zwar irritiert, beteiligt sich aber nur ausnahmsweise an den Protesten.

Es ist ein spontaner Aufstand des säkularen Bürgertums, zunächst in Istanbul und den anderen Großstädten der Türkei, mehr und mehr aber auch in der Provinz. In insgesamt 67 türkischen Städten hat es am vergangenen Wochenende Proteste gegeben.

Öl ins Feuer

Dabei hat Erdogan mit seinen Auslassungen den Ärger noch zusätzlich befeuert. Demonstranten sind für ihn Mob, im besten Falle irregeleitete Wutbürger. Während Staatspräsident Abdullah Gül oder auch der Bürgermeister von Istanbul, Kadir Topbas, zu beschwichtigen versuchen, gießt Erdogan weiter Öl ins Feuer – sei es aufgrund seines anhaltenden Realitätsverlustes oder als gezielte Strategie – weist Erdogan jede Kritik weit von sich.

Recep Tayyip Erdogan; Foto: picture-alliance/dpa
Aufbegehren gegen Erdogans autoritären Kurs: "Erstmals ging es in der Türkei nicht mehr um den seit Jahrzehnten eingeschliffenen Konflikt der autoritären Kemalisten gegen die Islamisten, es geht um eine aufbegehrende Bürgergesellschaft, die nach persönlicher Freiheit und partizipativer Demokratie verlangt."

​​Während Topbas den Bau der Kaserne und des Einkaufszentrums wieder in Frage stellte und eine Diskussionsrunde mit den Kritikern einberufen wollte, ließ Erdogan wissen, es gäbe nichts zu diskutieren, seine Wähler hätten den Bauvorhaben längst zugestimmt.

Ein Gericht, das auf Antrag der Architektenkammer einen einstweiligen Baustopp für den Gezi-Park verhängte und damit das Fällen der Bäume verbot, musste sich von Erdogan sagen lassen, sie hätten wohl keine Ahnung wo ihre Kompetenzen verliefen.

Selbst hartleibige Erdogan-Anhänger regierungsnaher Zeitungen halten die Alleingänge Erdogans mittlerweile für gefährlich. "Zaman"-Kommentator Yavuz Baydar fragt sich, ob es Erdogan gelingen wird, seine autoritäre "Ich-weiß-alles-besser und Ich-entscheide-alles-allein-Haltung" noch einmal zu revidieren und wieder zu einem demokratischeren Regierungsstil zurückzufinden.

Auf Konfrontationskurs

"Ich bin nicht sehr optimistisch", bekennt er und warnt gleichzeitig die AKP. Wenn Erdogan so weitermacht, könnte die Kommunalwahl in Istanbul und Ankara im kommenden Frühjahr verloren gehen, die Präsidentschaftswahl für Erdogan knapp werden und selbst die Aussöhnung mit den Kurden wieder in Frage gestellt werden.

Während seiner letzten Pressekonferenz am Montag (3.6.), vor seinem Abflug zu einem Staatsbesuch in Marokko, deutete Erdogan noch an, in welche Richtung sich die Proteste in den nächsten Tagen entwickeln könnten: "Wir können unsere Anhänger, 50 Prozent der Bevölkerung, nur mit Mühe in ihren Wohnungen halten", ließ er die fragenden Journalisten wissen. Gemeint war damit, dass er leicht seine eigenen Leute gegen den "Mob" der nun seit Tagen gegen ihn demonstriert, mobilisieren könnte.

Erdogan, der seit längerem nur noch von einer politischen Gefolgschaft von Ja-Sagern umgeben ist, will es scheinbar auf eine große Konfrontation ankommen lassen. Selbst abstürzende Börsenkurse, sonst ein Alarmsignal für den türkischen Ministerpräsidenten, lassen ihn dieses Mal kalt: "Die Börse geht immer hoch und runter, das hatten wir bereits!"

Jürgen Gottschlich

© Qantara.de 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de