Protest ohne Nachhall

Die marokkanische Protestbewegung hat viel von ihrer anfänglichen Mobilisierungskraft verloren. Eine geschickte Strategie des Palastes, die politische Zugeständnisse mit Repression verband sowie fehlende Bündnispartner haben die Bewegung stark geschwächt. Doch das Königreich ist deswegen in Zukunft keineswegs sicher vor neuen Protesten. Von Beat Stauffer

Von Beat Stauffer

Im Sidi Youssef Ben Ali, einem einfachen Außenquartier von Marrakesch, kommt es am 28. Dezember zu gewalttätigen Demonstrationen. Rund 3.000 Menschen gehen auf die Straße, um gegen die starke Erhöhung der Strom- und Wasserpreise zu protestieren.

Für die aktiven Mitglieder der "Bewegung des 20. Februar" – der marokkanischen Protestbewegung –, die häufig auch der unabhängigen Menschenrechtsorganisation AMDH oder kleinen linken Parteien angehören, ist dies ein Beweis dafür, dass ihre Bewegung, die in den Medien oft totgesagt worden war, sehr wohl noch lebt und die Menschen mobilisieren kann.

Auch die Proteste gegen das sehr hohe Budget des Palastes – es beträgt rund 230 Millionen Euro im Jahr –, die Ende November in verschiedenen Städten stattfanden und sehr rigide unterdrückt wurden, werden von den Aktivisten als Beleg gesehen, dass die Bewegung mutig und kreativ geblieben ist und immer wieder Themen aufgreift, die vielen Menschen unter den Nägeln brennen.

Eine Protestbewegung in der Defensive

Proteste der M20 in Marrakesch; Foto: Abdeljalil Bounhar/AP/dapd
Erloschene Dynamik des Widerstands: "Es ist kaum zu bestreiten, dass die Bewegung, die im Frühjahr 2011 gleichzeitig in über 50 Städten hunderttausende von Menschen auf die Straße brachte, von prominenten Persönlichkeiten unterstützt wurde und den Monarchen Mohammed VI. tüchtig unter Druck setzte, mittlerweile stark geschwächt ist", schreibt Stauffer.

​​Dennoch ist kaum zu bestreiten, dass die Bewegung, die im Frühjahr 2011 gleichzeitig in über 50 Städten hunderttausende von Menschen auf die Straße brachte, von prominenten Persönlichkeiten unterstützt wurde und den Monarchen Mohammed VI. tüchtig unter Druck setzte, mittlerweile stark geschwächt ist.

"Im März 2011 war der König in der Defensive, heute ist es die Bewegung des 20. Februar", sagt etwa der Politikwissenschafter Mohamed Madani, der an der Universität von Rabat unterrichtet. Die Bewegung habe unzweifelhaft viel von ihrer ehemaligen Stärke eingebüßt, viele regionale Gruppen hätten ihre Aktivitäten ganz eingestellt.

Weshalb hat diese einst so kraftvolle, spontane und stark von jungen Menschen aus den Mittelschichten getragene Bürgerinitiative dieses Schicksal ereilt?

Madani sieht dafür im Wesentlichen drei Gründe. Zum einen habe die "Bewegung des 20. Februar" (M20) von Anfang an keine starken Bündnispartner gehabt. So unterstützte keine einzige große Partei die Anliegen des M20, und auch die Gewerkschaften hielten sich stark zurück. Die politisch nicht zugelassene islamistische Gruppierung "Gerechtigkeit und Wohlfahrt", die sich im Dezember 2012 definitiv aus dem M20 zurückgezogen hat, konnte diese Rolle aufgrund ihrer Illegalität nie übernehmen.

Einen zweiten wichtigen Grund sieht Madani im Umstand, dass der Palast einigen wichtigen Forderungen der Demokratiebewegung zumindest teilweise entgegengekommen ist – etwa der Forderung nach einer neuen Verfassung oder nach vorgezogenen Neuwahlen. Zwar ist die Demokratiebewegung mit dem Resultat keinesfalls zufrieden. Doch sei dies in der Öffentlichkeit sehr viel schwieriger zu kommunizieren. "Es ist einfacher, nach einer neuen Verfassung zu rufen als diese anschließend zu kritisieren", sagt Madani.

Zuckerbrot und Peitsche

Eine Rolle spielt schließlich auch die Repression, welcher die Bewegung M20 ausgesetzt war. Dabei handelte es sich nicht um eine blindwütige, brutale Repression wie in anderen arabischen Ländern. Der Umgang des marokkanischen Regimes mit der Protestbewegung war vielmehr wechselseitig: mal nachsichtig, dann aber wieder sehr hart, was wohl zu einer Verunsicherung der potenziellen Teilnehmer geführt hat.

Marokkos König Mohammed VI.; Foto: AP
Teile und herrsche: Um der demokratischen Protestbewegung und auch den regierenden Islamisten den Wind aus den Segeln zu nehmen, setzte König Mohammed VI. bislang auf verschiedene politische Strategien zur Neutralisierung seiner Widersacher.

​​Gleichzeitig ließ der König unter Gymnasiasten und Studenten auf subtile Weise verbreiten, dass eine Teilnahme an den Demonstrationen – und dabei vor allem an solchen Protesten, die sich direkt gegen den Palast richteten – die berufliche Zukunft der Betreffenden für immer verbauen werde. Aus diesem Grund, so berichtete ein Aktivist gegenüber Qantara.de, hätten sich viele Kommilitonen nicht mehr an den monatlichen Protesten beteiligt.

Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte schließlich auch die Entwicklung, welche die arabischen Aufstände in manchen Ländern genommen hatte. "Die Menschen haben Angst vor chaotischen Zuständen wie in Libyen oder gar einem Bürgerkrieg wie in Syrien", berichtet ein Gewährsmann. Das Regime schüre diese Ängste systematisch, indem der Berichterstattung über die Revolutionswirren sehr viel Platz eingeräumt werde, gleichzeitig aber die wichtigen Lernprozessen auf dem Weg der Demokratisierung – etwa im tunesischen Verfassungsrat – totgeschwiegen würden.

Islamistische Regierung als Puffer

Die islamistische Regierung Benkirane, die seit gut einem Jahr im Amt ist und sich stets von der Protestbewegung distanziert hat, weist eine sehr durchzogene Bilanz auf.

Der Unternehmer Karim Tazi, der für sein Engagement für den M20 landesweit viel Aufmerksamkeit erregt hatte, zieht gar eine eindeutig negative Bilanz: "Nach einem Jahr gibt es in Marokko nur Verlierer", erklärte Tazi gegenüber Qantara.de. Die Öffentlichkeit verliere die Hoffnung, dass sich Marokko durch demokratische Wahlen tatsächlich verändern lasse. Und die regierenden Islamisten seien im Begriff, an der Aufgabe zu scheitern, welche sie sich selber gesetzt hätten.

Zu den Verlierern gehört für Tazi aber auch der Palast: Er riskiere die "Notsicherung", zu verlieren, die zurzeit einzig die PJD-Islamisten zwischen einer frustrierten Bevölkerung und den politischen Institutionen und vor allem dem Palast darstelle.

Nicht alle Beobachter ziehen eine derart negative Bilanz. Der PJD genieße in der Bevölkerung noch immer recht viel Vertrauen, meint etwa ein Universitätslehrer in Marrakesch. Auch Mohamed Madani glaubt, die Mittelschichten unterstützten in ihrer großen Mehrheit die Regierung Benkirane weiterhin. Sie seien sich bewusst, dass die Regierung derzeit nur über einen kleinen Handlungsspielraum verfüge.

Abdelilah Benkirane; Foto: DW/Smail Bellaouali
Ministerpräsident Benkirane als neuer Hoffnungsträger der marokkanischen Mittelklasse: Seitdem im Januar 2012 die Regierung unter Führung des gemäßigten Islamisten Abdelilah Benkirane antrat, hat die Bewegung des 20. Februar viel an Unterstützung verloren.

​​Er weist darauf hin, dass es Benkirane schließlich fertiggebracht habe, der Bevölkerung eine spürbare Erhöhung der Treibstoffpreise schmackhaft zu machen, ohne dass es deswegen zu landesweiten Revolten gekommen sei. Das sei schon fast ein kleines Wunder.

Drohender Aufstand der verarmten Schichten

Wird Marokko in Zukunft von den Stürmen des arabischen Frühlings verschont bleiben? Experten halten dies für eher unwahrscheinlich. Die Proteste hätten in den vergangenen Monaten andere Formen angenommen und würden nicht mehr von den gebildeten Mittelschichten in den großen Städten getragen, analysiert Madani. Es seien vielmehr untere soziale Schichten, die am Rande der Armut lebten und immer häufiger auf die Straße gingen, um gegen die Verteuerung ihrer Lebenshaltungskosten zu protestieren.

Meistens fänden diese Proteste in verarmten, als rebellisch bekannten Provinzstädten statt, wie etwa in Sefrou, Sidi Ifni oder Safi. Für diese Unzufriedenen, die wohl kaum begreifen, was eine Verfassungsreform darstellt, ist das Leben seit dem Ausbruch der arabischen Aufstände denn auch deutlich schwieriger geworden.

Die regionalen Proteste und Aufstände sind laut Madani bis anhin national nur schlecht vernetzt. Sollte es den lokalen Akteuren gelingen, sich landesweit zu koordinieren, so könnte es sowohl für die Regierung Benkirane als auch für den Palast ungemütlich werden. "Denn diese neuen Aufstände und ihre sozialen Akteure", so ist Madani überzeugt, "dürften sehr viel schwieriger zu kontrollieren sein."

Beat Stauffer

© Qantara.de 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de