Zuhaus beim Sensemann

Der neue Roman des marokkanischen Schriftstellers Mahi Binebine ist von der Geschichte um die islamistischen Attentäter von Casablanca inspiriert. Seine Botschaft: Solange sich die die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich nicht ändert, wird es immer neue Anwärter für die Todesengel von Sidi Moumen geben. Von Claudia Kramatschek

Als am 16. Mai 2003 die marokkanische Hafenstadt Casablanca von einer Serie koordinierter Anschläge heimgesucht wird, ändert sich das politische Klima des Landes schlagartig. Marokko, bis dato verschont von Terror, sah sich plötzlich im Visier von Al-Qaida, die man schon deshalb hinter den Anschlägen vermutete, da die Bomben allein jüdischen wie westlichen Zielen galten.

Rasch erklärte König Mohammed VI. den Kampf gegen den Terrorismus als ebenso wichtige Aufgabe wie die Demokratisierung und Modernisierung seines Landes. Tatsächlich handelte es sich um islamistisch motivierte Anschläge. Die Attentäter – sechzehn Jugendliche, von denen zwölf bei den Anschlägen starben – waren Mitglieder der in Marokko verbotenen Untergrundorganisation "Salafiya Jihadia", der die marokkanische Regierung bis heute Verbindungen zum Terrornetzwerk Al-Qaida vorwirft.

Doch ebenso aufschlussreich ist vielleicht, dass alle sechzehn Jugendliche, wie man in Regula Renschlers instruktivem Nachwort zu Mahi Binebines Roman "Die Engel von Sidi Moumen" erfahren kann, aus dem gleichnamigen Elendsviertel vor den Toren der Stadt stammten.

Buchcover Die Engel von Sidi Moumen im Lenos-Verlag
Armut und Perspektivlosigkeit als Katalysatoren des Terrors: Binebine geht in seinem Roman den Ursachen für die Verbreitung des islamischen Extremismus bei der jüngeren Generation auf den Grund.

​​Der 1959 in Marrakesch geborene Romancier und Maler war, wie so viele Marokkaner, schockiert von der Todesbereitschaft dieser Jugendlichen. Erst ein Jahr zuvor, 2002, war er in seine Heimat zurückgekehrt. Seit 1980 hatte er mehr oder weniger ununterbrochen in Paris gelebt. Der Autor, der in seinen Romanen bevorzugt gesellschaftlich marginalisierte Figuren in den Mittelpunkt rückt, begann in Sidi Moumen zu recherchieren – fünf Jahre kehrte er immer wieder dorthin zurück.

Leben im Müll

2010 dann erschien der Roman "Les Étoiles des Sidi Moumen" im französischen Original – es ist Binebines persönlicher Versuch, die zentralen Voraussetzungen eines solchen Terrors zu verstehen, indem er uns zeigt, unter welchen Umständen diese Jugendlichen herangewachsen sind, und ihnen eine Stimme verleiht.

In Sidi Moumen – das eigentlich nicht mehr ist als eine riesige Mülldeponie – lebt folglich auch sein Ich-Erzähler Jaschin alias Muh. Nachts teilt Jaschin sich mit seiner Familie zu sechst ein enges Zimmer voller Schweiß, Naphtalin und Schnarchgeräuschen. Tagsüber dagegen spielt der knapp 12-jährige Junge auf den Abfallbergen mit seinen Freunden in der Fußballmannschaft "Étoiles des Sidi Moumen" – es sind inmitten von Tod und Verwesung Momente des Glücks, die Binebine nicht verhehlt.

Doch Gott, so weiß Jaschin, hat schon lange sein Antlitz von Sidi Moumen abgewandt. Dort nämlich, so bekennt er an einer Stelle des Romans lakonisch, "gehörte der Sensemann zum Alltag. Er war gar nicht so schrecklich. Die Menschen kamen und gingen, lebten und starben, ohne dass sich an unserer Misere etwas verändert hätte. Wir hatten ihn uns zueigen gemacht. Wir waren das Haus, in dem er sich ausruhte. Der Tod war unser Verbündeter. Er diente uns, wir dienten ihm."

Anschlag im Restaurant des spanischen Kulturhauses Casa de Espana in Casablanca am 17. Mai 2003; Foto: AP
"Der Tod war unser Verbündeter": Bei der Serie von Selbstmordanschlägen im marokkanischen Casablanca im Mai 2003 wurden mindestens 41 Menschen getötet.

​​Doch es gibt – so zeigt uns Binebine anhand seiner realistisch geschilderten Figuren, die er dennoch nicht zu Ideenträgern reduziert – weitere tägliche Begleiter: Erniedrigung; familiäre, was zumeist bedeutet: väterliche Gewalt, Perspektivlosigkeit, Sinnlosigkeit. Jaschins Freund Ali etwa wird von seinem Vater regelmäßig geschlagen, Nabil wiederum, der hübsche Sohn der ortsansässigen Prostituierten, ist Objekt der Verachtung und der Begierde zugleich. Als Jaschin und seine Freunde eines Tages einem Drogenrausch erliegen, vergewaltigen sie ihn brutal.

Folgt man Binebines Roman – der darin natürlich über den konkreten Fall hinaus einen generellen Befund treffen will –, machten sich die Islamisten genau dieses repressive Klima einer Welt ohne Versprechungen auf eine Zukunft im Morgen zunutze. Eines Tages lernt Jaschins älterer Bruder Hamid einen hilfsbereiten und einflussreichen Mann namens Abu Subair kennen, genannt "der Emir".

Die Rattenfängermethoden der Dschihadisten

Rasch vermittelt der Emir Jaschin und seinen Freunden erst einen Job, dann lehrt er sie den rechten Weg Gottes und Kung Fu, und bald ist zwischen Beten und Arbeiten kein Platz mehr für irgendetwas anderes. Als Jaschin und seine Freunde schließlich in ein 'Trainingslager' reisen dürfen, wo sie den Umgang mit Waffen erlernen und mit Bildern aus Palästina auf ihre Pflicht als Muslime eingeschworen werden, ist dies nur der logische Schlusspunkt einer sorgfältig durchgeführten Indoktrination.

Mahi Binebine; Foto: Unionsverlag
"Es ist Binebines persönlicher Versuch, die zentralen Voraussetzungen des Terrors zu verstehen, indem er uns zeigt, unter welchen Umständen die Jugendlichen in Sidi Moumen herangewachsen sind", schreibt Kramatschek.

​​Binebine zeigt seinen Lesern insofern die Rattenfängermethoden, mit denen zukünftige Dschihadisten angeheuert werden. Er zeigt, dass Armut einen günstigen Nährboden für den Terrorismus bilden kann – ohne den Terror damit als solchen zu entschuldigen. Vor allem aber lässt er uns mit jeder Station der schrittweise vollzogenen Indoktrination tiefer in Jaschins Denken schlüpfen. Das erlaubt uns nachzuempfinden, wie die Welt aussieht für eine hungrige Seele, die langsam aber sicher auf den Dschihad gepolt wird: Denn wo wir Hass sehen, fühlt Jaschin zum ersten Mal wieder ein Moment von Würde.

"Schluss mit dem Hundeleben"

Wo wir Jaschins sicheren Tod vor Augen haben, hat er das Gefühl, seinem Leben jenseits der Straße endlich wieder einen Sinn zu verleihen: "Wir hatten unsere Herzen Gott geöffnet und Er hatte uns mit seinem Geist erfüllt. Schluss mit der Hetzerei, den Pöbeleien und den stumpfsinnigen Prügeleien, Schluss mit dem Hundeleben auf dem Müll der Ungläubigen."

Jaschin schildert seinen tödlich endenden Weg – er stirbt mit 18 Jahren – übrigens aus der Rückschau, also als Toter. Dieser Trick ermöglicht Binebine, den Terrorismus gleichermaßen von außen wie von innen heraus zu betrachten und zu erklären. Denn Binebine – der nur gegen Ende seines von Regula Renschler überzeugend übersetzten Romans etwas zu dick aufträgt und momentweise ins Melodramatische driftet – will weder beschönigen noch verdammen.

Nicht zuletzt deshalb schildert er auch die glücklichen Seiten des Lebens in Sidi Moumen. Es sind Kinder, sagt uns sein Roman, die sich nach einem normalen Leben sehnen. Kinder, die zwar zu Tätern werden, aber letztlich Opfer sind von gesellschaftlichen Missverhältnissen. Solange sich diese nicht ändern und die Gesellschaft die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich beflissentlich ignoriert, werden – so Binebines unausgesprochene, aber unüberhörbare Warnung – immer neue Anwärter für die Todesengel von Sidi Moumen nachwachsen.

Claudia Kramatschek

© Qantara.de 2012

Mahi Binebine: "Die Engel von Sidi Moumen", Roman, aus dem Französischen und mit einem Nachwort versehen von Regula Renschler, Lenos Verlag 2011

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de