Die erkauften Loyalitäten des ''Bruder Oberst''

Als Muammar al-Gaddafi König Idris I. stürzte, war er keine 30 Jahre alt. Und doch gelang es ihm, sich fast 42 Jahre lang an der Macht zu halten und dabei zahllose Umsturzversuche und Anschläge zu überleben. Der libysche Publizist Mustafa Fetouri mit einem Rückblick

Von Mustafa Fetouri

Als Beduine bediente sich Gaddafi zweier, den Beduinen eigener Instinkte: der Fähigkeit, Gefahren frühzeitig zu erkennen und auf diese Bedrohungen seiner Macht mit aller Brutalität zu reagieren. Diese geradezu seherischen Fähigkeiten, diese Intuition, ermöglichte ihm, permanent flexibel agieren zu können.

Doch als Gaddafi mit ansehen musste, wie die Sowjetunion, einst sein wichtigster Geldgeber, zusammenbrach, entschied er sich umgehend dazu, seine Politik der harten Hand, mit der er sein Land regiert hatte, zu lockern: Er ließ Häftlinge frei, gab konfiszierte Reisepässe zurück und hob Ausreiseverbote auf. All das tat er schneller, als es wohl jeder andere Regierungschef vermocht hätte.

Gaddafi scheute keine Mühen, wenn es darum ging, sich selbst zu beweisen, dass ihm jemand noch loyaler verbunden war als ein anderer. Loyalität war seine oberste Priorität beim Aufbau des Staates. Nahezu alle kritischen Positionen in den Sicherheits- und Militärbehörden waren von loyalen Kumpanen besetzt. Das galt natürlich auch für das Fernsehen, denn Gaddafi war davon überzeugt, dass die Kontrolle über Fernsehen und Radio den Erfolg seiner Revolution ausmachte. Auch andere Medien standen unter strikter Regierungskontrolle. Selbst für eine Satellitenschüssel musste man eine Lizenz von einem Telekommunikationsunternehmen einholen.

Bei der Vorbereitung seiner unblutigen Revolution rekrutierte er ausschließlich Leute, deren Stammeszugehörigkeiten für ihn keine Konflikte heraufbeschwören könnten. Schlüsselpositionen besetzte er nur mit Personen aus ihm loyal ergebenen Stämmen, vor allem aus seinem eigenen, der "Al-Gaddafa".

Popularität und Terrorismus

Mit den hohen Einkünften aus der libyschen Erdölindustrie gelang es Gaddafi, in den 1970er und 1980er Jahren viele öffentliche Dienste und Entwicklungsprojekte ins Leben zu rufen.

Muammar al-Gaddafi; Foto: AP
Siegreicher Underdog: Als Muammar al-Gaddafi, der aus einer armen Beduinenfamilie stammte, am 1. September 1969 König Idris I. stürzte, war er gerade einmal 28 Jahre alt, war erst einmal im Ausland gewesen und zweimal aus der Schule geworfen worden, so Mustafa Fetouri.

​​Einmal an die Macht gekommen konzentrierte sich Gaddafi darauf, das Land nahezu von Grund auf neu aufzubauen. In den 1970er Jahren gab es noch weniger als 50 Universitätsabsolventen in Libyen. Es gab weniger als ein Dutzend Oberschulen und nur drei Krankenhäuser.

Die hohen Einkünfte aus der Ölindustrie erlaubten es daher Gaddafi, seine Versprechen einzulösen und viele öffentliche Dienste anzubieten und Entwicklungsprojekte ins Leben zu rufen, und das in dem überwiegend aus Wüste bestehenden Land. Dies sorgte für einen Popularitätsschub des jungen Führers, der ihn die ersten zwei Jahrzehnte seiner Herrschaft sicherte.

Auch war er äußerst kommunikativ und genoss eine Beliebtheit, die auch daher rührte, dass er oft Menschen im ganzen Land besuchte. So gewann er allmählich das Vertrauen der Mehrheit der Libyer. Doch geriet diese Popularität ins Wanken, als dem Land harte Sanktionen andere Staaten auferlegt wurden, weil der Westen Gaddafi für eine Reihe terroristischer Anschläge verantwortlich machte, von denen der das Lockerbie-Attentat das schlimmste war.

Gaddafis "Dritte Universaltheorie"

Gaddafi und Nasser; Foto: wikipedia
Im ideologischen Fahrwasser des großen Bruders: Gaddafi (links) nach seiner Machtergreifung 1969 mit dem ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser

​​Um das Jahr 1977 hatte Gaddafi sich mit den meisten Mitgliedern des "Bundes der freien Offiziere" überworfen, den er 1965 mitgegründet hatte, um den König zu stürzen. Gaddafi fand, dass es an der Zeit war, sie loszuwerden. Und dies gelang ihm auf recht geschickte Weise: Er schuf die sogenannte "Dritte Universaltheorie", deren Ideen zur direkten Demokratie in einem bald nur noch als "Grünes Buch" bekannten Werk niedergelegt waren. Dieses Buch avancierte de facto zur Verfassung des Landes, das zuvor über keine Verfassung verfügt hatte.

Im so entstandenen neuen System war für seine alten Genossen kein Platz mehr: Aus dem zwölf Mitglieder umfassenden Gremium, mit dem er angefangen hatte, war nun eines aus insgesamt sieben geworden. In den späten 1980er Jahren, entschloss sich Abdel Salam Jallud – wohl noch der aussichtsreichste Konkurrent um die Macht im Staate –, zur Aufgabe seines Postens in der Regierung, unterhielt jedoch weiterhin enge freundschaftliche Beziehungen zu Gaddafi, bis er sich Anfang letzten August auf die Seite der Aufständischen schlug.

In Sicherheitsfragen war Gaddafi stets sehr penibel. Die Anstellung aller seiner Sicherheitsbeamten musste von ihm persönlich abgesegnet werden – auch die seiner persönlichen Leibgarde. Für jede Autoreise ließ er seinen Sicherheitsapparat eine sichere Route planen. Besuche in anderen Städten wurden niemals angekündigt und wenn er ins Ausland reiste, ließ er zwei zusätzliche Flugzeuge starten, sodass es schwer war, einzuschätzen, in welchem er sich wirklich befand.

Auch das zivile Personal in seinem Büro wurde von ihm persönlich angestellt und auch wenn es niemandem gestattet war, zu kündigen, konnte doch jedem jederzeit gekündigt werden. Talent, Wissen oder Bildung zählten bei ihm weniger als Loyalität.

Mit seiner Bewachung war eine ganze Brigade der loyalsten Stammesmitglieder beauftragt. Während der letzten zwei Jahrzehnte war diese Brigade von Angehörigen seines eigenen Stammes dominiert. Als seine Söhne alt genug waren, übertrug er ihnen die Verantwortung für die wichtigsten Aufgabenbereiche: Militär, Sicherheit und Kommunikation – alle drei wurden in der ein oder anderen Weise von Mitgliedern aus Gaddafis Familie geführt, nicht zuletzt aber auch die mächtigen Armeebrigaden, die für den Großteil der Kämpfe im Krieg verantwortlich waren.

Erkaufte Loyalitäten

Die hohen Einkünfte aus dem Erdölgeschäft nutzte Gaddafi, um seine Macht auszubauen und gegen jede Gefahr abzusichern. Auch seine Leute verfuhren so, dass sie mit Geld das Schweigen und die Loyalität anderer erkauften. Als sich die USA in den 1980er Jahren daran machten, ihn zu fassen, heuerte seine Regierung sogar Auftragskiller an, die Regimegegner überall in der Welt liquidieren sollten.

Anhänger Muammar al-Gaddafis; Foto: dpa
Verblichener Glanz des selbst ernannten "Führers der Volksmassen": Muammar al-Gaddafi erlangte noch in den 1970er und 1980er Jahren wegen des Ausbaus des Schul- und Gesundheitssystems ungeahnte Popularität bei der Zivilbevölkerung.

​​Die größte Gefahr für seinen Machterhalt aber ging von innen aus: Als es 1993 einer Gruppe von Offizieren beinahe gelang ihn zu stürzen, bestand diese zum größten Teil aus Angehörigen eines der ihm am loyalsten verbundenen Stämmen, den "Warfalla". Ironischerweise blieben die "Warfalla" jedoch nach dem Scheitern des Coups loyal – und das trotz der Rache, die er in dem nachfolgenden Jahrzehnt an ihnen nahm.

Auch in den vergangenen sieben Monaten seiner Herrschaft gehörten die "Warfalla" noch immer zu Gaddafis vehementesten Unterstützern – wenn auch nicht, weil sie den Diktator so sehr schätzten, sondern weil sie in erster Linie ihre eigenen Interessen wahren wollten.

Gegen Ende der 1990er Jahre versuchte wieder eine Gruppe von Offizieren, Gaddafi zu stürzen. Dieses Mal sogar von Angehörigen seines eigenen Stammes, was nach dem Scheitern des Putsches grausame Bestrafungen zur Folge hatte: So wurde der Rädelsführer des Putsches, Abdel-Salam Akshaba, im Beisein der anderen Verschwörer in Stücke geschnitten. Das war eine Warnung an all jene, die nochmals versuchen sollten, Gaddafi die Macht zu entreißen. Die Hinrichtung Akshabas wurde auf Video aufgezeichnet und später zur Abschreckung potentiellen Feinden vorgeführt.

Gaddafi regierte Libyen 42 lange Jahre, von 1969 bis 2011. Mit 69 Jahren fand sein Regime ein blutiges Ende. Er blieb seinem Wort genauso treu wie seinem Charakter: Im Februar, in einer ersten Reaktion auf die Revolte in Bengasi, verkündete er, dass er kämpfen und im eigenen Land sterben würde. Genau dies ist am 20. Oktober auch eingetreten.

In Erinnerung behalten wird man ihn wahrscheinlich für seine markigen Worte und Reden – wie etwa für die, welche er vor zwei Jahren vor den Vereinten Nationen hielt, aber auch für die Frauen, die ihm als Leibwächterinnen dienten. In Libyen aber wird man ihn vor allem als grausamen Diktator in Erinnerung behalten.

Mustafa Fetouri

© Qantara.de 2011

Mustafa Fetouri ist Wissenschaftler und politischer Analyst und lebt in Tripolis. 2010 erhielt er den von der EU vergebenen Samir Kassir-Preis für Pressefreiheit in der Kategorie "Bester Leitartikel".

Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de