Die Rückkehr der Hardliner

Noch vor wenigen Jahren sah es so aus, als würde die Erdogan-Regierung eine Versöhnungspolitik gegenüber den in der Türkei lebenden Kurden einleiten. Doch die einstige Reformdynamik ist längst erloschen. Heute stehen die Zeichen wieder auf Sturm, wie Ömer Erzeren berichtet.

Von Ömer Erzeren

Am 28.Dezember vergangenen Jahres gegen Mitternacht bombardierten Kriegsflugzeuge der türkischen Luftwaffe einen Konvoi nahe der kurdischen Stadt Uludere. 35 Menschen starben im Bombenhagel. Es waren kurdische Zivilisten, die unter Billigung der lokalen Behörden und des Militärs mit Eseln Schmuggel in kleinem Umfang betrieben. Das billige irakische Öl über die Grenze zu bringen, ist Existenzgrundlage vieler Menschen in der Region.

Nach all den Hoffnungen auf eine friedliche Lösung der kurdischen Frage in der Türkei demonstrierte das Massaker von Uludere den erschreckenden Zustand des Konfliktes und die politische Perspektivlosigkeit der Regierung Tayyip Erdogan. Der Staat hatte innerhalb seiner Grenzen die eigene Luftwaffe eingesetzt und unschuldige Zivilisten getötet.

Totgeschwiegene Gewalt

Der türkische Ministerpräsident Erdogan; Foto: dapd
"Kein Staat bombardiert absichtlich sein eigenes Volk" - erst sehr spät hatte Ministerpräsident Erdogan sein Bedauern über den tödlichen Luftangriff der türkischen Armee bei Uludere geäußert.

​​In einem Land mit sozialer Normalität und einer halbwegs funktionierenden Demokratie wäre es wohl ein Tag der nationalen Katastrophe gewesen: Staatstrauer, Fahnen auf Halbmast, Rücktritt der politisch Verantwortlichen. In der Türkei dagegen passierte zuerst einmal gar nichts. Die Medien des Landes – geübt in Selbstzensur – machten die schrecklichen Geschehnisse 18 Stunden lang gar nicht publik.

Erst als die Nachricht über die sozialen Netzwerke, über Twitter und Facebook, Verbreitung gefunden hatte und der Sprecher der Regierungspartei sein "Bedauern" bekundete, als er von einem "militärischen Operationsfehler" sprach, fand das Massaker Widerhall bei den Medien.

Doch eine Entschuldigung der politischen Amtsträger blieb bis heute aus. Ministerpräsident Erdogan rang sich zu einer halbherzigen Beileidsbekundung durch und versprach rund 50.000 Euro für die Hinterbliebenen der Opfer. Weder politisch Verantwortliche noch Offiziere wurden zur Rechenschaft gezogen. Die Ermittlungsverfahren dürften sich lange hinziehen; und auch ohne prophetische Fähigkeiten ist davon auszugehen, dass diese im Sande verlaufen werden.

Auf Konfrontationskurs

Der Umgang mit dem Massaker von Uludere demonstriert die politische Linie, die sich die Regierung Erdogan nach den Wahlen im Juni vergangen Jahres zu Eigen gemacht hat. Die konservativ-islamische Regierungspartei (AKP), die mit fast 47 Prozent der Stimmen einen großen Wahlsieg errungen hatte, setzt auf die militärische Zerschlagung der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in der Tradition der Vorgängerregierungen seit dem Militärputsch von 1980.

PKK ruft Kurden zum Aufstand gegen die Türkei auf; Foto: dapd
Offene Rebellion gegen die Regierung Erdogan: Nach dem tödlichen Luftangriff der türkischen Armee im kurdisch dominierten Grenzgebiet zwischen der Türkei und dem Irak, bei dem 35 Menschen getötet wurden, hatte die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu einem Aufstand aufgerufen.

​​Die Beendigung des einseitigen Waffenstillstandes seitens der PKK, dem blutige Angriffe auf Militärposten folgten – einen Monat nach den Wahlen töteten PKK-Militante 13 Soldaten nahe der Stadt Silvan – lieferte der Regierung einen Vorwand, dem Konflikt allein mit militärischen Mitteln beizukommen.

Noch im Herbst 2009 hegte man große Hoffnungen auf eine friedliche Lösung. Auf Weisung der PKK-Führung hatten Dutzende Guerilleros ihre Waffen niedergelegt und als "Friedensbotschafter" die irakisch-türkische Grenze passiert. Sie wurden kurzzeitig festgenommen und binnen 24 Stunden wieder auf freien Fuß gesetzt.

Der Verdacht lag nahe, dass die Aktion kein einseitiges Bekunden des guten Willens der PKK bedeutete, sondern von vornherein mit der Spitze des türkischen Staates abgesprochen war. Geheimprotokolle zwischen dem Chef des türkischen Geheimdienstes als Sonderbeauftragter des Ministerpräsidenten und Spitzen der PKK-Führung in Oslo, die später an die Öffentlichkeit gelangten, bestätigten, dass die "demokratische Öffnung", welche die Regierung damals propagierte, in Absprache mit der PKK erfolgte.

Eine Friedensmission als Fiasko

Auch der inhaftierte Führer der PKK, Abdullah Öcalan, der für Millionen Kurden noch immer ein Idol ist, war eingeweiht und hatte Gespräche mit dem Geheimdienstchef geführt. Während im Grenzgebiet Hunderttausende Kurden die Ankunft der Guerilleros feierten, war im Westen der Türkei eine nationalistische Welle der Empörung festzustellen. Die Regierung Erdogan machte daher einen Rückzieher. Die Friedensmission endete in einem Fiasko. Seit dieser Zeit stehen die Zeichen auf Sturm.

Flagge/Symbol der PKK; Foto: AP
Die PKK als "Inkarnation des Bösen" stellt bis heute das ideologische Feindbild der Nationalisten in der Türkei dar.

​​Die gescheiterte Friedensmission war dem Umstand geschuldet, dass sie die Gesellschaft unvorbereitet traf. Über Jahrzehnte hinweg stellte die PKK als "Inkarnation des Bösen" das ideologische Feindbild der Nationalisten dar. Ihrem bewaffneten Aufstand konnte man nur mit Waffengewalt begegnen, so deren Logik. Ein friedlicher Dialog mit den Kurden existierte nicht, weil politische, legale Bewegungen der Kurden mittels Repression von Polizei und Justiz zum Schweigen gebracht wurden.

Die Regierung Erdogan, die noch vor wenigen Jahren den Mut aufgebracht hatte, das direkte Gespräch mit der PKK zu suchen, agiert heute völlig zurückhaltend. Sie hat die Aufstandsbekämpfung in die Hände des Militärs gelegt. Bis auf die Tatsache, dass die Militärs heute nicht mehr einen Staat im Staat darstellen, hat sich zu früheren Zeiten nicht viel geändert.

Doch nicht nur das. Über eine Sonderjustiz, die zum willfährigen Werkzeug der Regierung geworden ist, sollen Oppositionelle, die den Kriegskurs der Regierung nicht mittragen wollen, letztlich zum Schweigen gebracht werden. Die legale Kurdenpartei BDP, die mit 35 Abgeordneten im Parlament vertreten ist und Millionen Wählerstimmen auf sich vereinigt, wird systematisch kriminalisiert. Über 6.000 Parteimitglieder befinden sich wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer PKK-nahen Organisation in Haft, unter ihnen auch hohe Parteifunktionäre und gewählte Bürgermeister.

Die Hintergärten des Terrorismus

Und es trifft nicht nur ranghohe Parteimitglieder. Unabhängige Intellektuelle, wie der renommierte Ragıp Zarakolu oder die Professorin für Politikwissenschaft Büsra Ersanli, befinden sich seit Oktober vergangenen Jahres in Haft. Sie waren als Redner in der Parteischule der BDP aufgetreten. Daraus leitete die Staatsanwaltschaft eine angebliche "Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation" ab.

Jüngst erklärte gar der türkische Innenminister Idris Naim Sahin: "Die Terrororganisation hat ein weiteres Standbein: Wissenschaftler, Künstler mit ihren Gemälden, Dichter mit ihren Gedichten. Sie bekämpfen den Kampf gegen den Terrorismus. Es ist der Hintergarten des Terrorismus in Istanbul, in Izmir: das Rednerpult an der Universität, der Verein, die NGO…!"

Im September vergangenen Jahres verglich die Nachrichtenagentur AP die offiziellen Zahlen der weltweit wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation rechtskräftig verurteilten Personen. Das Ergebnis war niederschmetternd: Die Türkei führt weltweit die Liste mit fast 13.000 Verurteilungen an, gefolgt von China mit 7.000.

Hin und wieder melden sich Politiker aus der zweiten Reihe der Regierungspartei zu Wort und beschwören, dass die demokratische Öffnung nicht beendet sei, dass Reformen anstünden und man den Kurden entgegenkommen werde – Lippenbekenntnisse, die wie Hohn auf die bittere Realität wirken.

Ömer Erzeren

© Qantara.de 2012

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de