«Kein Propagandafilm»: Vom Aufstieg des tadellosen «Reis»

«Reis» («Anführer») ist angelaufen, der Film zeigt die Kindheit und die ersten Jahre des Politikers Erdogan. Kritik am heutigen Präsidenten der Türkei findet sich dort erwartungsgemäß nicht. Dafür spielen eine Rolle: Ein süßer Hund - und die Schweiz. Von Can Merey und Linda Say

Eine Szene aus Istanbul: Fünf Türken werden zu Unrecht beschuldigt, Mitglieder einer illegalen Organisation zu sein. Der Polizeichef beugt sich dem Druck der Mächtigen und lässt die Männer festnehmen. Es handelt sich nicht um die Türkei von heute, sondern um die in den 1960er Jahren, wie sie in «Reis» («Anführer») gezeigt wird, einem Film über Kindheit und Aufstieg des heutigen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan.

«Reis» ist vor wenigen Tagen in der Türkei und auch in Deutschland angelaufen, nachdem monatelang die Werbetrommel gerührt worden war. Einen Zuschauerandrang hat der Film dennoch nicht verzeichnet, wie türkische Medien berichten. In einem Kino im Istanbuler Zentrum fiel eine Vorstellung am ersten Abend gleich ganz aus, weil niemand erschienen war. Die Ticketverkäuferin gab zu bedenken, ohnehin kenne jeder Türke Erdogans Leben, dafür müsse man keinen Film anschauen.

Das geringe Interesse an dem Film - der kein offizielles Projekt der Regierung ist - lässt allerdings keine Rückschlüsse auf Erdogans Beliebtheit zu, die in weiten Teilen der Bevölkerung gigantisch groß ist. Einer der Fans des Staatspräsidenten ist «Reis»-Hauptdarsteller Reha Beyoglu selbst, er sagt: «Wir lieben Erdogan.» Beyoglu versichert, Erdogan habe keinerlei Einfluss auf den Film genommen. Der Termin des Filmstarts habe auch nichts mit dem am 16. April bevorstehenden Referendum über das von Erdogan gewünschte Präsidialsystem zu tun. «Reis» sei «kein Propagandafilm».

Der Streifen stellt Erdogan als tadellosen Menschen ohne Schwächen dar, vielleicht abgesehen von seiner Liebe zum Fußball, die zwar kaum als Makel zählt, aber Erdogans Vater nicht gefällt. Tayyip ist selbstlos, hilfsbereit, respektvoll, klug und bescheiden, schon als Kind nennen ihn seine Kumpels «Reis». Die leisen Zwischentöne, die Graubereiche sind nicht so sehr Programm. Zwischen den Bösen und den Guten verläuft eine klare Linie, sie sind schon darin leicht zu unterscheiden, dass die einen Alkohol trinken und die anderen nicht.

Im Zentrum des Films steht eine Teestube, wo jene eingangs erwähnten Freunde verkehren, die später eingesperrt werden. Schuld trägt der drogenabhängige Sohn eines mächtigen Türken, der ohne ersichtlichen Grund Streit anzettelt und einen der Freunde erschießt. Die verbliebenen fünf sollen nun dafür bluten, sie werden beschuldigt, Mitglieder einer ebenso erfundenen wie mörderischen islamistischen Organisation zu sein. Tayyip lernt, was Ungerechtigkeit ist.

In wilden Zeitsprüngen wechselt der Film zwischen der Kindheit Erdogans, zwischen seinem Wahlkampf für das Bürgermeisteramt und seiner Zeit als Stadtoberhaupt Istanbuls. Plötzlich passiert Folgendes: Mitten im Wahlkampf fällt einem Kind nachts ein sehr süßer Hund in einen Brunnen. Der Junge hat zufällig Erdogans Visitenkarte mit dessen Privatnummer. Erdogan, gerade erst nach Hause gekommen, bricht auf, um den Hund zu retten - obwohl ihn seine Familie (Ehefrau Emine trägt auch im Haus Kopftuch) bittet, zu Hause zu bleiben.

Auch ausländische Verschwörungen kommen nicht zu kurz. Gegner Erdogans sitzen vor dessen Wahlsieg 1994 in einem Büro zusammen, sie gelangen zur Erkenntnis, dass sie seinen Aufstieg früher hätten stoppen müssen. «Konsolosluk» wird eingeblendet, es handelt sich also um ein Konsulat, das dazugehörige Land wird nicht benannt. In dem Büro stehen aber zwei kleine Flaggen, eine ist die türkische, die andere ist rot mit einem weißen Kreuz in der Mitte. Die Schweiz?

Der Film endet 1999 mit Erdogans Verhaftung. Vor dem Gefängnis steigt der «Reis» aus dem Polizeibus aus, er spricht zur wartenden Menge. Die Polizei lässt ihn und die Menschen gewähren, statt sie mit Tränengas und Wasserwerfern auseinanderzutreiben, wie es heute denkbar wäre - aber der Film spielt ja auch in der Vergangenheit.  Hauptdarsteller Beyoglu sagt, wenn die Resonanz des Publikums begeistert genug ausfalle, dann seien weitere Folgen von «Reis» durchaus denkbar.

Ausreichend Stoff aus den vergangenen 18 Jahren gäbe es zwar. Die Begeisterung der Zuschauer allerdings ist bislang mäßig. Auf der Internet Movie Database (IMDb) war «Reis» zeitweise der am schlechtesten bewertete Film überhaupt. (dpa)