Die Wiederentdeckung der Geschichte

Fast ein Jahrhundert lang fanden die berühmten historischen Romane des libanesischen Schriftstellers und Journalisten Jurji Zaidan international kaum Beachtung. Doch dies hat sich seit kurzem grundlegend geändert, wie Marcia Lynx Quailey berichtet.

Von Marcia Lynx Qualey

Fast hätte George Zaidan sein Leben verbracht, ohne einen der berühmten Romane seines Großvaters zu lesen. Jurji Zaidans Enkel war ausgelastet, zunächst mit seinem Studium und der Arbeit im Verlag der Familie, später mit seiner langen Karriere bei der Weltbank. Jurji Zaidans 22 Romane waren mit Sicherheit ein wichtiger Teil der Familiengeschichte, doch George Zaidan wurde 25 Jahre nach dem Tod seines Großvaters geboren und war mit anderen Dingen beschäftigt.

Erst im Jahr 2009 begann Zaidans Enkel, auf den Vorschlag seiner Frau hin, die Werke seines Großvaters zu lesen. Er muss dabei eine ähnliche Freude verspürt haben wie jeder der tausenden arabischen Leser, die Zaidans Romane noch heute so sehr verehren wie die englischen Leser Robert Louis Stevensons Werke oder die französischen Romane von Alexandre Dumas. Zaidan fasste daraufhin den Plan, einige der Romane ins Englische zu übersetzen.

Streitpunkt westlicher Lebensstil

Der außergewöhnliche Schriftsteller, Pädagoge und Verleger Jurji Zaidan (1861-1914) wurde in eine bescheidene Beiruter Familie geboren. Früh erlernte er das Lesen und Schreiben, wurde jedoch gezwungen, sein Studium abzubrechen, um seinem des Lesens nicht mächtigen Vater bei der Buchhaltung zu helfen.

Seine Ausbildung blieb jahrelanger Streitpunkt in der Familie: Jurjis Mutter wollte, dass er sein Studium fortsetzte, doch laut einer unveröffentlichten Autobiographie war Jurjis Vater der Meinung, Bildung würde seinen Sohn "in einen verwestlichten Dandy" verwandeln, "der nur mit Messer und Gabel isst".

Jurji Zaidan im Kreise seiner Familie; Foto: Zaidanfoundation.org Foto:
Ein "arabischer Alexandre Dumas": Jurji Zaidan im Kreis seiner Familie um das Jahr 1908. In seinem Streben nach einer kulturellen Renaissance vereinte Zaidan arabische und europäische Ideen.

​​Tatsächlich übernahm Zaidan bestimmte Aspekte westlichen Gedankenguts und kam auch auf die Idee, moderne westliche Kleidung zu tragen. In seinem späteren Streben nach einer arabischen nahda - oder kulturellen Renaissance - vereinte Zaidan arabische und europäische Ideen. Oder wie der Kritiker Orit Bashkin über seine Romane sagte, sie "weisen auf die Unmöglichkeit hin, Osten und Westen als eine geteilte Gesamtheit anzusehen".

Zurück zum Goldenen Zeitalter des Islam

Die Romane verkörpern viele Ideale, die den westlichen Lesern bekannt sind, finden jedoch zur Zeit der arabischen Eroberung Andalusiens, des Goldenen Zeitalters des Islam oder der Krönung der ersten muslimischen Herrscherin statt.

Obwohl Zaidan sein Studium für mehrere Jahre unterbrochen hatte, nahm er es mit großem Elan wieder auf und wurde schließlich zum Medizinstudium an der "American University in Beirut" (AUB) aufgenommen. Als Zaidan jedoch bald darauf Proteste an der AUB aufgrund einer ungerechten Entlassung eines Professors anführte, welche die Verwaltung schließlich dazu veranlasste, die Universität für ein Jahr zu schließen, entschloss er sich, nach Ägypten zu gehen, um dort seine medizinische Ausbildung zu beenden.

An dieser Stelle endet Zaidans unvollendete Autobiographie, und bricht somit, wie die Kapitel vieler seiner Romane, an der spannendsten Stelle ab. Zaidan und ein Freund wurden nicht zum Medizinstudium zugelassen.

Was auch immer der Grund hierfür war, Zaidan arbeitete stattdessen als Journalist und gründete das Kairoer Dar al-Hilal-Magazin, in welchem er seine Reformideen ausarbeitete und seine Romane serienmäßig veröffentlichte.

Grenzenlose Popularität

Die Romane waren bei Denkern wie etwa Taha Hussein, aber auch bei vielen gewöhnlichen Ägyptern äußerst beliebt. Als jedoch einige Akademiker damit begannen, die Geschichte des arabischen Romans zu formen, wurden Zaidans Werke als unwichtig beiseite gekehrt.

Buchcover The Caliphs Heirs von Jurji Zaidan
Bemüht um historische Exaktheit: Zaidans "The Caliph's heirs" spielt im 9. Jahrhundert in Bagdad und beschreibt den Niedergang des Abbasidenkalifats.

​​Roger Allen, Professor für arabische Literatur und Pionier der Zaidan-Übersetzungen, erinnert sich: "George Zaidan kam vor fünf Jahren zu mir, denn er hatte festgestellt, dass sein Großvater in dem Aufbauprozess einer Geschichte des arabischen Romans tatsächlich verdrängt worden war."

Lange Zeit verwarfen die Wissenschaftler den arabischen Historienroman. Dies führte dazu, dass Zaidan von Gelehrten wie Übersetzern "massiv unterschätzt" wurde, wie Allen meint. Nach der Niederlage von 1967 begannen diese Wissenschaftler jedoch, viele Dinge zu überdenken. Seitdem ist das Interesse an Zaidans Werken deutlich gewachsen.

Roger Allen findet Zaidans Bücher besonders ansprechend, da "man sie leicht lesen kann. Außerdem macht es großen Spaß, die Werke zu übersetzen. Sie sind wirklich hervorragend", so Allen.

Obwohl George Zaidan auch mit traditionellen Verlagen hätte arbeiten können, entschied er sich – bis auf eine einzige Ausnahme – für den Selbstverlag. Dies gebe ihm die Kontrolle über das Projekt, so Zaidan. Der Selbstverlag eröffne die Freiheit, "Zaidans Bildungsmission bei der Übersetzung fortzuführen, indem allen Büchern Lernhilfen - und zum Teil auch wissenschaftliche Bewertungen - beigefügt werden".

Exaktheit historischer Ereignisse

Wie auch sein Großvater, legte George Zaidan besonderen Wert auf die Genauigkeit der historischen Gegebenheiten in seinen Romanen. Roger Allen stimmt dem zu und meint: "Je mehr ich mich auf die eigentliche Geschichte konzentriere, desto mehr bemerke ich, dass alles, was Zaidan in seinen Büchern geschrieben hat, historisch korrekt ist – selbst die Liebesgeschichte."

Allerdings wirken seine Romane für das heutige Publikum etwas zu belehrend und enthalten mitunter pedantisch anmutende Bemerkungen was das Verhältnis der Geschlechter betrifft. Dennoch bereiten die Handlungen so viel Vergnügen, dass es verwundert, dass sie bisher noch nicht umfassender übersetzt wurden.

Es existieren zwar Übersetzungen in einer Reihe europäischer und asiatischer Sprachen – erstaunlicherweise jedoch nicht auf Englisch. Roger Allen erklärt dies damit, dass Übersetzungen aus dem Arabischen ins Englische vor allem ein Projekt der Nachkriegszeit gewesen seien und dass die meisten der bisherigen Übersetzungen durch das persönliche Verhältnis zwischen Autor und Übersetzer zustande gekommen seien. Zudem bemerkt er: "Die westliche Forschung war mehr interessiert am sozialen Realismus, als an der Wiederaufbereitung der Geschichte."

Einer von Zaidans Romanen, "Perlenbaum" (Tree of Pearls), gewann vor kurzem einen Übersetzerpreis und wurde von der Syracuse University Press herausgegeben. Die Übersetzerin Samah Selim erzählte, sie habe über mehrere Jahre an dem Roman gearbeitet, der eines ihrer Lieblingsbücher sei. "Ich liebe die Art, wie Zaidan die herrschende Politik, die sexuellen Intrigen, den Prunk mit historischen Hintergründen und Fakten verbindet", so Selim.

Die Geschichte des arabischen Romans wird nun neu erdacht, glaubt Allen und zitiert Oscar Wilde: "Die einzige Pflicht, die wir gegenüber der Geschichte haben, ist die, sie umzuschreiben". Roger Allen ist deshalb davon überzeugt, dass dies auf den arabischen Roman ebenso zutrifft, wie auf alles andere.

Marcia Lynx Quailey

© Qantara.de 2013

Übersetzt aus dem Englischen von Laura Overmeyer

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de