Jubel und Jammer: «Aquarius» entzweit «Flüchtlingsparadies» Spanien

Mit der Aufnahme der «Aquarius» und anderen Aktionen entwickelt sich Spanien zu einer Art «Flüchtlingsparadies». Die gut 600 Migranten, die am Sonntag in Valencia eintrafen, können sich ob des Timings glücklich schätzen. Aber in Spanien regt sich auch Widerstand. Von Emilio Rappold

Als die ostspanische Küste vom Deck der «Aquarius» aus sichtbar wird, geht es los: Dutzende Flüchtlinge tanzen und singen wie in Trance. Nach einer achttägigen Irrfahrt durch das Mittelmeer erreichen die Insassen des Seenot-Rettungsschiffes in Valencia am Sonntag endlich einen sicheren Hafen. An Land gehen unter dem Beifall von Helfern vorwiegend jüngere Männer - aber auch unbegleitete sechs- oder siebenjährige Kinder, Frauen mit Kindern auf dem Arm, schwangere Frauen. Sie wirken alle ausgelaugt und unsicher, gehen aber erhobenen Hauptes. Einige singen, einige springen hin und her vor Freude, die meisten schweigen.

«Sie sind glücklich, aber nervös, weil sie nicht wissen, was sie erwartet», erzählt Sara Alonso Esparza vom staatlichen spanischen Radiosender RNE, die auf der «Aquarius» mitfahren durfte, nachdem Italien vor einer Woche die damals noch 629 Flüchtlinge abgewiesen und Spanien sich zur Aufnahme bereit erklärt hatte. Am Sonntag sind es 630, denn auf See gebar eine Frau ein Kind.

Die Journalistin Esparza wird die Szenen an Deck nie vergessen. Ebenso wenig wie die junge Mitarbeiterin des spanischen Roten Kreuzes, die der Deutschen Presse-Agentur in einer Pause mit Tränen in den Augen sagt: «Das war sehr bewegend. Ich bin stolz auf alle hier. Und stolz auf mein Land.»

Die Ankunft der «Aquarius» war am Wochenende in ganz Valencia Gesprächsthema Nummer eins - noch vor dem 3:3-Remis der spanischen Auswahl bei der WM gegen Portugal. «So sind wir in Spanien eben. Wenn jemand Hilfe braucht, helfen wir, wo wir nur können», sagt die 24-jährige Studentin Ana auf dem Rathausplatz. Am Rathaus prangt ein riesiges Plakat: «València Ciutat Refugi» - «Valencia, Stadt der Zuflucht». Und auch «îvolemacollir!» (etwa «Wirwollenaufnehmen!»)

Die Welle der Hilfsbereitschaft ist groß. Supermarktketten und Tante-Emma-Läden spendeten Lebensmittel und andere Dinge. Mehr als 150 Gemeinden allein in der Provinz Valencia erklärten sich bis Samstag bereit, «Aquarius»-Flüchtlinge aufzunehmen. Und mehr als 2.500 Bürger und Familien riefen an oder schickten E-Mails, um vor allem Frauen oder Jugendlichen in ihren vier Wänden Zuflucht anzubieten.

Ist Spanien nicht nur ein Urlaubs-, sondern auch ein Flüchtlings-Paradies? Seit Anfang Juni wird diese Frage in Spanien sicher von noch mehr Menschen energisch bejaht. Ministerpräsident Pedro Sánchez ist nur wenige Tage im Amt, aber in der Migrationspolitik räumt er schon auf. Es geht nicht nur um die «Aquarius».

Der 46-Jährige kündigte unter anderem an, dass die illegal in Spanien wohnenden Menschen - rund 800.000 - wieder ins Gesundheitssystem aufgenommen werden sollen. Die konservative Regierung von Mariano Rajoy, die Sánchez per Misstrauensvotum stürzte, hatte sie 2012 ausgeschlossen. Zeichen setzt Madrid auch mit der Ankündigung von Innenminister Fernando Grande-Marlaska, man werde die umstrittenen messerscharfen Klingen an den Grenzzäunen der Afrika-Exklaven Ceuta und Melilla entfernen. «Es gibt weniger grausame Methoden», sagt der Minister.

Es gibt viel Zustimmung und Anerkennung. In Valencia, aber auch in Madrid, in Barcelona, in Sevilla. Aber es gibt auch die, die anders denken. Die die Abweisung der «Aquarius» durch die italienische Regierung loben. Die einflussreichen konservativen Medien zum Beispiel. «Spanien erlebt aufgrund der Lockwirkung eine Flüchtlingslawine», titelte zum Beispiel am Sonntag die Zeitung «ABC» auf Seite eins. Flüchtlinge aus aller Welt würden Spanien überfluten, meinen auch einige ranghohe Politiker von Rajoys Volkspartei (PP).

Bei einer Protestkundgebung fremdenfeindlicher Organisationen anlässlich der «Aquarius»-Ankunft kamen am Samstagabend am Hafen von Valencia gerade mal 30 bis 40 Menschen zusammen. «Sehr viele denken wie wir, aber sie wollen sich nicht zeigen. Noch nicht. Bald wird das aber anders sein», sagte die resolute Rentnerin María Jesús.

«Solidarität - aber mit Ordnung», prangte auf einem Transparent. «Die Spanier zuerst», war auf anderen zu lesen. María Jesús erklärt, was sie und ihre Mitstreiter stört. «Wenn wir Spanier in Not sind, bekommen wir nichts von da oben. Ich selbst musste meine Familie um Hilfe bitten, als mein Mann vor Jahren starb.

Und den Flüchtlingen wird alles hinterhergeworfen.» Ihre Tochter, eine Lehrerin, finde keine Stelle und schlage sich mit Gelegenheitsjobs durch. Ihre Klagen werden von anderen Teilnehmern wiederholt. Viele arme Alte müssten auf der Straße schlafen. Kriminalität und Prostitution nähmen in Valencia zu. Und die meisten Migranten seien ohnehin Wirtschaftsflüchtlinge, heißt es immer wieder.

Die Radiojournalistin Alonso Esparza könnte diesen Demonstranten viel erzählen. Vom 16-Jährigen aus Liberia zum Beispiel, der auf der «Aquarius» geheult und erzählt hat, er sei allein auf der Welt, weil seine ganze Familie während der Ebola-Epidemie gestorben sei. Er sei seit zwei Jahren auf der Flucht. Oder vom Musiker Jack (30), der nach eigenen Angaben von der Terrorgruppe Boko Haram gefoltert wurde und zu seiner in Madrid lebenden Schwester wolle.

Die «Aquarius»-Flüchtlinge können nun Hoffnung schöpfen. Aber die Migranten, die künftig im Mittelmeer aufgegriffen werden, haben eine ungewisse Zukunft vor sich. Die Schließung von Häfen «wird die Rettung von Migranten sehr erschweren», klagt der Präsident der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen in Spanien, David Noguera. SOS Méditerranée, die seit 2016 die «Aquarius» chartert, hofft, dass die «inakzeptable Irrfahrt» der «Aquarius» zu einem Weckruf für ganz Europa wird. (dpa)