Von der Macht der Erinnerung im Zedernstaat

Jabbour Douaihy umkreist mit seinem etwas sperrigen Roman "Morgen des Zorns" die Traumata der libanesischen Geschichte. Andreas Pflitsch hat den Roman für Qantara.de gelesen

Auf kollektiv erlebte Traumata wie Naturkatastrophen, Kriege oder Bürgerkriege reagieren Gesellschaften nicht selten mit Verdrängung. Weil nicht gewesen sein kann, was nicht gewesen sein darf, werden die Ereignisse totgeschwiegen.

Um das zu verhindern, hat der an der American University of Beirut lehrende Soziologe Samir Khalaf nach dem libanesischen Bürgerkrieg 1975-1990 eine gründliche Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Vergangenheit gefordert. Diese sei schon deshalb zwingend notwendig, weil nur so die Gefahr einer Wiederholung gebannt werden könne. Khalaf gehörte in den 1990er Jahren zu den prominentesten Kritikern an der in seinen Augen mangelnden Auseinandersetzung der Libanesen mit den Schattenseiten ihrer Geschichte.

Tradition des Vergessens

Tatsächlich gibt es im Libanon eine lange Tradition der Verdrängung. Schon im Friedensvertrag, der 1860 den drusisch-maronitische Bürgerkrieg beendete, wurde festgelegt, dass man fortan die Vergangenheit ruhen lassen werde. Der kurze Bürgerkrieg von 1958 wurde mit der Formel "Kein Sieger, keine Besiegten" und einer Amnestie beendet. Eine Ursachenforschung und Aufarbeitung der Geschehnisse waren nicht vorgesehen.

Beirut im Jahr 1975 zur Zeit des Bürgerkriegs; Foto: AP
Kritik an der im Libanon praktizierte "Tradition der Verdrängung": Anstatt schreckliche Ereignisse – wie sie der Libanon beispielsweise in Form diverser Bürgerkriege erlebt hat - totzuschweigen, müsse man sie aufarbeiten, schon alleine aus dem Grund, dass es zu keiner Wiederholung komme.

​​1991 wurde wiederum ein Amnestiegesetz verabschiedet, das alle Kriegsverbrechen umfasste. Diese Form des staatlich verordneten Vergessens kann der Befriedung von Gesellschaften dienen, die durch Kriege, Bürgerkriege oder Diktaturen beschädigten sind. Oft wird in diesem Zusammenhang das Pathos einer "Stunde Null" beschworen und die Möglichkeit eines unbelasteten Neuanfangs suggeriert. Da die traumatisierenden Ereignisse aber auf diese Weise nicht verarbeitet werden, bleiben sie unterschwellig wirkmächtig und können, gewissermaßen als blinder Fleck der eigenen Geschichte, von Generation zu Generation weitervererbt werden.

Wie lebendig über lange Zeit verdrängte Erlebnisse sein können und mit welcher Vehemenz sich die Traumata noch nach Jahrzehnten Bahn brechen, führt der 1949 geborene Jabbour Douaihy in seinem Roman "Morgen des Zorns" vor Augen. Ein nie ganz aufgeklärtes Massaker, dass Ende der 1950er Jahre in einem Dorf in den nordlibanesischen Bergen etwa zwei Dutzend Tote und viele Verletzte gefordert hatte, steht im Zentrum des Romans. Dabei steht die erzählte Geschichte unter Vorbehalt. Ähnlich wie in den mittlerweile klassischen Bürgerkriegsromanen von Elias Khoury gibt es auch bei Douaihy keine verlässliche Wahrheit, sondern nur miteinander konkurrierende Annäherungen, die sich ergänzen können und die sich nicht selten widersprechen.

Ein unzuverlässiger Chronist

Elia, den es auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg nach New York verschlagen hat, kehrt nach vielen Jahren zum ersten Mal in den Libanon zurück. Er ist auf der Suche nach der Wahrheit hinter dem Tod seines Vaters, der, als er bei dem Massaker ums Leben kam, genauso alt war, wie Elia zum Zeitpunkt seiner Rückkehr. Er fragt Nachbarn und Zeitzeugen, die sich nicht alle zuverlässig erinnern können – oder wollen: "Auf jeden Fall… glauben Sie nicht alles, was Sie hören. Diesen Rat geben ihm alle."

Douaihy variiert das Thema Erinnerung auf verschiedenen Ebenen. Gegenläufige Gedächtnisse treffen schon beim ersten gemeinsamen Frühstück von Elia und seiner Mutter aufeinander: "Sie weiß noch von früher, bevor er fortging, dass er Birnenmarmelade mochte. Er hat es vergessen, dass er gerne Birnenmarmelade aß." Was also können wir verlässlich wissen von der Vergangenheit, wenn selbst die Erinnerung an die alltäglichsten Banalitäten, wie die eigenen Vorlieben, nicht zuverlässig sind? Die langen Jahre in Amerika haben Elia seiner alten Heimat entfremdet, seine Kleidung, seine Gestik und sein Gang haben sich verändert. Ist er noch derselbe, der er war, bevor er wegging? Welche Rolle spielt die Vergangenheit für die Identität eines Menschen?

Wie ein Detektiv versucht Elia die Geschichte seines Vaters zu rekonstruieren, indem er Detail an Detail reiht und in seine Kladde einträgt. "Hat mein Vater eine Waffe getragen?", lautet eine der drängenden, auch schmerzenden, weil die Verantwortung des Vaters ansprechenden Fragen. Hatten die Ereignisse mit den bevorstehenden Wahlen zu tun? Wo liegen Ursache und Anfang der langen Familienfehde? Welche Traditionen, Dispositionen und Befindlichkeiten stecken hinter der Bluttat?

​​Elia ist, dem sich hier äußernden Bemühen um Genauigkeit zum Trotz, kein unbestechlicher Chronist. Was er in seiner Kladde sammelt – und was wir, die Leser des Romans, erfahren – unterliegt dem Verdacht der subjektiven Verfälschung. In Amerika, erfahren wir, hat sich Elia seine Biographie immer wieder neu erfunden, nicht zuletzt "um den Mädchen den Kopf zu verdrehen". Er ist sich seiner Identität nicht sicher und erweist sich als Virtuose der Selbst-Orientalisierung, der seinen Exotenbonus gezielt einsetzt und sich mal als Sohn eines jemenitischen Stammesführer ausgibt, mal durch erfundene Krankheiten Mitleid zu erwecken sucht. Dass man als Leser wenig Vertrauen zu einem derart unsicheren Chronisten aufbaut, versteht sich.

Zähe Lektüre

Hinter dem Roman steckt die Geschichte eines Massakers, das tatsächlich 1957 im Nordlibanon stattfand und an dem die Familie des Autors beteiligt war. Douaihy geht es aber nicht um eine historische Rekonstruktion, sondern um die Möglichkeiten und vor allem die Grenzen, davon zu erzählen. Als Literat fragt er nach Funktion und Macht der Geschichten und zeigt, wie sie zustande kommen, während die Historiker die Ereignisse zu einer mutmaßlich 'wahren' Geschichte machen und mit Sinn versehen.

Der Roman erzählt von der Macht der Erinnerung, vom Wirken der Geschichte und der Geschichten und davon, wie man sich der eigenen Vergangenheit immer wieder neu versichern muss. So mühsam sich die verzweifelte Suche seines Protagonisten nach der Wahrheit – und damit nach der eigenen Identität – darstellt, so zäh gestaltet sich bisweilen die Lektüre, da der Text aufgrund des Detailreichtums und der zyklischen Erzählweise an nicht wenigen Stellen zu zerfasern droht. Dadurch wirkt Douaihys Roman passagenweise sperrig, überladen und überambitioniert. Viele der angerissenen Themen – etwa die Verbindung der traditionellen dörflichen Clanstrukturen mit den politischen Ideologien der Zeit, die den Libanon in den 1950er und 1960er Jahren so nachhaltig prägte, oder die Rolle der libanesischen Diaspora – bleiben skizzenhaft.

"Wir kommen niemals zu einem Ende mit dieser Geschichte", beklagt einer der von Elia befragten Zeitzeugen. Die Beklemmung, die in dieser End- und Ausweglosigkeit liegt, vermittelt Douaihys Roman nachhaltig. Seine Diagnose ist so eindeutig wie verstörend: Da ist Niemand, der nicht von den Ereignissen beschädigt und in seiner weiteren Entwicklung tief geprägt worden wäre. So tritt uns in Elia die libanesische Verkörperung von Adornos Diktum, dass es kein richtiges Leben im falschen gibt, gegenüber.

Andreas Pflitsch

© Qantara.de 2012

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

Jabbour Douaihy: Morgen des Zorns. Aus dem Arabischen von Larissa Bender. München: Hanser 2012, 350 Seiten.