Keine Intifada in Sicht

"Sharqiya" ist der erste israelische Film, der sich kritisch mit der prekären Lage der Beduinen im Land auseinandersetzt. Igal Avidan hat sich mit dem Regisseur Ami Livne sowie mit dem Drehbuchautor Guy Ofran und dem Hauptdarsteller Adnan Abu Wadi unterhalten.

Von Igal Avidan

Wie entstand die Idee zu diesem Film?

Guy Ofran: Ich wuchs in einem entlegenen jüdischen Dorf in der Wüste auf und ging zusammen mit den Kindern einer benachbarten Beduinenfamilie zur Schule. Das war für mich als Kind normal. Als Soldat merkte ich, dass man meine beduinischen Kameraden als "Diebe" bezeichnete und auch in unser Dorf brachen immer wieder Beduinen ein. Der Vater meiner Schulfreunde setzte sich 1948 für Israel ein und erhielt dafür ein Grundstück, aber per Handschlag und ohne Dokumente.

Kamel (Adnan Abu Wadi) während seiner Arbeit als Wachmann am zentralen Busbahnhof von Beer Sheba; Filmszene aus Sharqia; Foto: Amit Berlowitz/Detailfilm
Verlorenes Vertrauen in den Staat: Kamel (Adnan Abu Wadi) während seiner Arbeit als Wachmann am zentralen Busbahnhof von Beer Sheba.

​​Seitdem er gestorben ist, versucht der Staat nun das Camp der Familie abzureissen. Doch jüdische Israelis aus der Gegend setzen sich für diese Familie ein. Der Staat will sie für ihre Umsiedlung entschädigen, aber sie wollen bleiben. Das Drehbuch schrieb ich als Filmstudent. Ami, der mit mir studierte, las das Exposé und wollte gleich die Regie führen.

Basiert der Film auf einem wirklichen Geschehen?

Ofran: Einige Monate nachdem wir 2005 die Arbeit am Film begannen, warf sich ein beduinischer Sicherheitsmann am zentralen Busbahnhof über einen Terroristen, der sich in die Luft sprengte. Der Beduine wurde dabei schwer verletzt und, der Staat erkannte ihn aber nicht als Terroropfer an. Zuerst wollten wir seine Geschichte verfilmen, dann aber entwickelten wir eine fiktive Figur.

Wie sind Sie zu Ihrer ersten Rolle gekommen?

Adnan Abu Wadi: Ein Freund rief mich an und sprach von einem verzweifelten Regisseur, der seit drei Jahren einen Darsteller sucht und der gerade die Beduinenstadt Rahat in Richtung Tel-Aviv verlässt. Ich wohne unweit von dort in einem nicht anerkannten Dorf. Das interessierte mich aber nicht: Ich bin kein Schauspieler, sondern jobbe als Wächter. Früher war ich Sicherheitsbeamter bei der Bahn. Doch er insistierte, und ich stimmte dann einem spontanen Treffen zu. Damit niemand im Dorf davon erfährt, machten wir eine Sprechprobe heimlich unter einer Autobahnbrücke - wie bei einem Drogendeal.

Was bedeutet das Wort "Sharqiya"?

Livne: Die Beduinen nennen so einen Ostwind - ein böser, gefährlicher Wind...

Abu Wadi: ...weil er Staub und Hitze bringt und den Körper austrocknet. Dieser Wind weht in der Abschlussszene. Was die Beduinen zurzeit im Süden Israels erleben, ist ein "Sharqiya": nämlich den Abriss vieler Häuser. Rund 70.000 leben in "illegalen Ansiedlungen". Obwohl unsere Familie seit drei Generationen am gleichen Ort lebt, und unser Dorf 350 Einwohner zählt, gilt er trotzdem als illegal. Unsere Bauanträge wurden alle abgewiesen. Aber in einer Ortschaft, in der Beduinen dicht beieinander leben müssen und folglich viele Probleme haben werden, will ich nicht leben.
Warten auch Sie selbst auf eine Baugenehmigung?

Abu Wadi: Seit sechs Jahren. Ich wohne immer noch bei meinen Eltern, und das mit 30 Jahren. Ohne Haus kann ich auch nicht heiraten. Wo soll meine Freundin wohnen? Unser Haus ist mehr als überfüllt. Dieses Steinhaus haben wir vor neun Jahren gebaut. Das war damals möglich. Erst in den letzten Jahren werden nicht genehmigte Bauten konsequent abgerissen, sogar das Zelt meines Cousins.

Haben Sie Militärdienst geleistet?

Abu Wadi: Nein. In dieser Zeit geht kaum noch jemand bei uns zur Armee. Vor kurzem kam ein beduinischer Grenzsoldat zu einem Heimaturlaub und sah einen Bulldozer, der gerade sein Haus abriss. Er war in Uniform, aber das interessierte niemanden. Warum sollen dann noch die Jugendlichen zur Armee gehen?

Filmszene aus Sharqia; Foto: Amit Berlowitz/Detailfilm
Bürger zweiter Klasse: Gegenwärtig leben mindestens 110.000 Beduinen in Israel, die meisten von ihnen in der Negev-Wüste. Viele ihrer Siedlungen sind bis heute nicht anerkannt und werden mit dem Abriss bedroht.

​​Wir leben gemeinsam in einem Staat, ich habe viele jüdische Freunde, bin aber gegen die Regierungspolitik. Im vergangenen September beschloss die Regierung, 30.000 Beduinen umzusiedeln. Doch nur wer sein Besitzrecht beweisen kann, wird entschädigt. Vertreter der Beduinen sprachen von einer "Kriegserklärung".

Abu Wadi: Bei uns protestierte man dagegen und blockierte Zugangsstraßen, aber eine Intifada sehe ich nicht.

Ofran: Bevor ich das Drehbuch schrieb, fuhr ich mit meiner Mutter vorbei an vielen beduinischen Ansiedlungen. Meine Mutter sagte, hier würde eine neue Intifada ausbrechen, weil man die Menschen zu sehr unter Druck setze. Tatsächlich: Wenn der Staat diesen Menschen weder Strom, noch Wasser oder Arbeitsplätze gibt und sie durch die Umsiedlung ihr Land und so auch ihre Einkommensquellen verlieren, entsteht ein sozialer Sprengstoff.

Livne: Gewalttätige Auseinandersetzungen sind möglich, aber eine Intifada nicht, weil die Beduinen gespalten sind. Jeder Stamm und jedes Dorf kämpft um seine eigenen Interessen.

Regisseur Ami Livne; Foto: privat
Regisseur Ami Livne: "Ich kritisiere die Verschlossenheit dieser Gesellschaft, die keine Selbstkritik erlaubt. Daher war es auch so schwer, diesen Film zu machen"

​​2007 schoss ein israelischer Bauer auf Beduinen, die in seine Farm in der Negev-Wüste einbrachen, verletzte einen und tötete einen anderen. Auf Initiative rechtsgerichteter Politiker verabschiedete das Parlament 2008 ein Gesetz, das solche Taten als Selbstverteidigung legalisiert. Das Gericht sprach den Bauer 2009 frei, da er in Selbstverteidigung handelte. Der verletzte Beduine wiederum wurde zu 20 Monaten Haft verurteilt.

Ofran: Dieses Gesetz ist erschreckend und anti-arabisch. Hätte er einen jüdischen Einbrecher erschossen, würde er im Gefängnis landen.
Abu Wadi: Man erschießt doch niemand, nur weil er eine Kuh oder eine Ziege für seine hungrigen Kinder gestohlen hat. Wovon soll er als Arbeitsloser leben? Dieser Vorfall hat mich erschüttert, denn wir sind Bürger dieses Staates. Dennoch lebt mein Dorf ohne Strom, viele Dörfer haben auch keine Wasserleitung. Die Beduinen verlieren allmählich ihr Vertrauen in den Staat.

Livne: Dieses Gesetz ist eine Lizenz zum Töten und würde niemals verabschiedet werden, wenn der Einbrecher jüdisch gewesen wäre.
Ich schätze die Lebensart der Beduinen und ihr Verhältnis zur Natur sehr. Zugleich kritisiere ich die Verschlossenheit dieser Gesellschaft, die keine Selbstkritik erlaubt. Daher war es auch so schwer, diesen Film zu machen. Ständig hatten wir Angst, dass Beduinen unser Projekt stören könnten. Es hat lange gedauert, bis wir einige Beduinen fanden, die uns das Drehen auf ihrem Land erlaubten. Viele Beduinen, die wir durch Kontaktpersonen erreichten, empfingen uns herzlich, wiesen uns aber nach einigen Tagen dann wieder ab.

Abu Wadi: In meinem Dorf wäre es für mich zu stressig gewesen, vor allen Bekannten zu drehen. Außerdem filmt bei uns nur die Landbehörde - und das in der Regel eine Woche vor dem geplanten Abriss von Häusern. Daher ist man misstrauisch.

Wo konntet Ihr den Film schließlich drehen?

Livne: Eine Beduinenfamilie baute für uns ein Camp auf ihrem Land. Die Produktionsfirma beantragte zwar eine Baugenehmigung, erhielt aber von der Behörde eine Absage. Aus Angst, diese würde unser Setting abreißen, bauten wir es erst zwei Tage vor Drehbeginn. Wir mussten innerhalb von fünf Tagen drehen, da wir einen Abriss befürchteten. Schließlich rissen wir es nach den Dreiarbeiten selbst ab.

Kann der Film die geplante Umsiedlung der Beduinen verhindern?

Abu Wadi: Das glaube ich nicht, aber er zeigt unsere Realität auf und wird den Menschen gefallen.

Livne: Ich hoffe, dass der Film, den ich für patriotisch halte, etwas bewegen kann und durch unsere Kritik diese Ungerechtigkeit ein Ende findet.

Ofran: Immerhin ist es der erste israelische Film, in dem Beduinen die Helden sind. Das allein ist schon ein großer Erfolg. Die fiktiven Protagonisten, Kamel und auch Adnan, sind israelische Patrioten, was ja keine Selbstverständlichkeit ist.


Interview: Igal Avidan

''Sharqiya''. Israel / France / Germany 2012, 85 min. Auf Arabisch und Hebräisch, (mit deutschen Untertiteln)

© Qantara.de 2012

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de