Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor: Deutschland braucht neue Identität

Die Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor hält Herkunft und Religion als Identitätsmuster für überholt. «Zu glauben, im Europa des 21. Jahrhunderts könne man von einer klar definierten Volksgruppe ausgehen, ist Selbstbetrug», schreibt Kaddor in einem Beitrag für das «RedaktionsNetzwerk Deutschland» (Samstagsausgaben). Die Herkunft allein tauge nicht mehr als «Kitt, der eine Nation zusammenhält». Stattdessen seien Deutsche und Zuwanderer gefordert, gemeinsam eine neue emotionale Verbindung zu Deutschland zu finden.

«Ein Land braucht etwas, hinter das sich seine Menschen gemeinsam stellen können», betont Kaddor, die für einen liberalen Islam eintritt. «Eine Fußball-, Basketball-, Handball-Nationalmannschaft, eine besondere Persönlichkeit, die für ihre Leistung von allen geschätzt wird, kann so eine Gemeinsamkeit verkörpern.» Auch das Beherrschen der deutschen Sprache sowie «eine gewisse Kenntnis von deutscher Geschichte» gehöre zum Deutschsein.

Es gehe darum, «eine emotionale Verbindung zu entwickeln, ein Gefühl für die Köpfe, die Deutschland geprägt haben», schreibt Kaddor: «Denn wer zu einem Land gehört und dort lebt, muss es verstehen, um partizipieren zu können.» Zuwanderung und Wandel seien historisch betrachtet normal und eine Selbstverständlichkeit. Sie überforderten niemanden, weil sie nicht abrupt geschähen, sondern sich über Generationen vollzögen.

«Politiker müssen den Menschen in Deutschland den gesellschaftlichen Wandel deutlich und unmissverständlich kommunizieren - und ihnen die Angst davor nehmen», forderte die Islamwissenschaftlerin, deren Eltern aus Syrien stammen. «Ich habe viel Verständnis für die emotionale Distanz zu diesem Land, die Menschen mit Migrationshintergrund angesichts der permanenten rassistischen und fremdenfeindlichen Schwingungen spüren.» (epd)