Libyens dschihadistische Minderheit

Zwar haben Libyens islamistische Milizen nach den Protesten Tausender aufgebrachter Demonstranten als Folge der Übergriffe auf das US-Konsulat in Bengasi inzwischen den Rückzug angetreten. Ihr Einfluss in Staat und Gesellschaft bleibt jedoch weiterhin ungebremst. Von Omar Ashour

Von Omar Ashour

"Sie sind bewaffnet, und für einen beschädigten Schrein kämpfe ich keinen verlorenen Kampf oder lasse meine Männer töten", sagte Fawzi Abd al-Aali, der ehemalige libysche Innenminister, bevor er im letzten August "zurücktrat". Er bezog sich auf die bewaffneten Salafistengruppen, denen man die Zerstörung von Sufi-Schreinen vorwarf. Eine der angeklagten Gruppen, die "Ansar al-Scharia"-Brigade, beeilte sich, die Zerstörung zu befürworten, lehnte aber jede Verantwortung dafür ab.

Ahmed Jibril, der stellvertretende libysche Botschafter in London, hat die Brigade unter der Führung von Muhammed Ali Al-Zahawy jetzt beschuldigt, hinter den Angriffen auf das US-Konsulat in Bengasi gestanden zu haben, bei dem der US-Botschafter Christopher Stevens und drei weitere Amerikaner sowie einige libysche Wächter getötet wurden. Jibrils Anschuldigung wurde schnell von anderen aufgegriffen. Aber die Lage ist komplizierter.

In einer schriftlichen Erklärung sowie in einem kurzen Interview mit ihrem Sprecher, der zu dieser Zeit Wächter am Al-Jala-Krankenhauses in Bengasi war, wies die Brigade jegliche Verantwortung von sich.

Bewaffnete Libyer stürmen das Islamistencamp der Ansar al-Scharia in Bengasi; Foto: Reuters
"Weg mit Al-Qaida!": Am vergangenen Freitag (21.9.) hatte eine aufgebrachte Menge das Hauptquartier der "Ansar al-Scharia"-Miliz in Bengasi gestürmt und die Islamisten aus der ostlibyschen Stadt vertrieben.

​​Ebenso wie in ihrer Aussage zur Zerstörung der Sufi-Schreine leugnete sie die Beteiligung am Angriff auf die US-Botschaft, betonte aber die Schwere der Beleidigung des Propheten, durch die er vermeintlich ausgelöst wurde.

Selbsternannte Hüter der Scharia

Bereits im letzten Juni erregte die Brigade öffentliche Aufmerksamkeit, als etwa 300 bewaffnete Mitglieder in Bengasi aufmarschierten und unter den Libyern Wut schürten. "Wir wollten den Mitgliedern des Allgemeinen Nationalrats eine Botschaft schicken", meinte Hashim al-Nawa, einer der Kommandeure der Brigade. "Sie dürfen die Scharia nicht antasten. Diese muss über der Verfassung stehen und kann nicht Gegenstand eines Referendums sein."

Aber steht wirklich die "Ansar al-Scharia"-Brigade hinter dem Anschlag auf das US-Konsulat? Die Rolle der postrevolutionären bewaffneten Islamisten in Libyen ist keineswegs eindeutig. Der Salafi-Dschihadismus ist keine Organisation, sondern eine ideologische Bewegung, die auf der Grundannahme beruht, dass die beste – und teilweise legitimste – Methode, soziale und politische Veränderungen zu erreichen, in bewaffneten Aktionen aller Art besteht.

Letztes Jahr spielte der Dschihadismus beim Sturz von Libyens brutalem Diktator, Oberst Muammar al-Gaddafi, eine wichtige Rolle. Viele Dschihadisten haben sich seitdem politisch weiterentwickelt und ihr Weltbild reformiert. Sie sind von bewaffneten zu unbewaffneten Aktionen übergegangen, haben politische Parteien gegründet und sind bei Wahlen angetreten.

Wahlschlappe der Islamisten

Aus der "Libyschen Islamischen Kampfgruppe" (LIFG) beispielsweise sind zwei große politische Parteien hervorgegangen. "Al-Watan" (Das Heimatland) wird vom ehemaligen LIFG-Kämpfer und Kommandanten des Militärrates von Tripolis, Abd al-Hakim Belhaj, angeführt. Die andere Partei, "Al-Umma al-Wasat" (Zentrale Nation), steht unter der Leitung von Sami al-Saadi, dem ehemaligen Chefideologen der Gruppe, und Abd al-Wahad Qaid, Militärkommandeur der LIFG und Bruder des verstorbenen Al-Qaida-Kommandeurs Hasan Qaid (Abu Yahya al-Libi).

Beide Parteien schnitten bei der Wahl zum neuen allgemeinen Nationalkongress im Juli schlecht ab, und nur Qaid gewann einen Sitz. Tatsächlich waren die Kongresswahlen in vielerlei Hinsicht für die gewaltfreien Salafistenparteien (wie Al-Asala) eine Niederlage, ebenso wie für die Post-Dschihadisten.

Anhängerinnen der islamistischen Partei Al-Watan in Tripolis; Foto: dpa
Zur Bedeutungslosigkeit verdammt: Bei der ersten freien Wahl seit dem Sturz Gaddafis am 7. Juli hatten die Islamisten der Al-Watan eine herbe Niederlage einstecken müssen. Als Sieger der Parlamentswahl gingen die liberalen Kräfte hervor.

​​Andere bewaffnete islamistische Gruppierungen, darunter auch Salafistengruppen, akzeptierten die Integration in die neuen libyschen Institutionen wie den Obersten Sicherheitsausschuss (das Innenministerium) und die Libyschen Abschirmkräfte (das Verteidigungsministerium). Über 30 Brigaden gingen in der Nationalgarde unter dem früheren LIFG-Vizekommandanten Khaled al-Sharif auf, größtenteils solche aus dem Westen und Südwesten.

Aber einige bewaffnete Gruppierungen wie die "Ansar al-Scharia" und die Brigade des inhaftierten Sheikh Omar Abd al-Rahman lehnen den Übergang zur Parteipolitik und die Integration in staatliche Institutionen immer noch ab. Diese Gruppen sind zahlreich, aber klein. Manche von ihnen wurden nicht eingeladen, sich an offiziellen Institutionen zu beteiligen, oder sie erhielten nicht genug Anreize dafür.

"Niemand hat uns gefragt, ob wir uns der Armee oder der Polizei anschließen möchten", sagte Sufian bin Qumu, der Kommandeur der "Ansar al-Scharia" in Derna und ehemaliger Guantánamo-Häftling, in einem Interview im April. "Sie haben mir oder meinen Männern für den Kampf noch nicht einmal eine Belohnung gegeben".

Bin Qumu leitet eine kleine paramilitärische Gruppe, die im Bou-Musafir-Wald in der Nähe von Derna trainiert. Er behauptet, wenn der Vorsitzende der Pfadfinder oder die Führer der städtischen Clans ihn auffordern würden, das Trainingslager aufzulösen, würde er es tun.

Wut auf marodierende Milizen

Der tragische Tod von Stevens und seinen Kollegen hat in Libyen weithin für öffentlichen Zorn gesorgt und die Isolation und Rechtlosigkeit der bewaffneten Gruppen verstärkt. Dutzende libyscher Aktivistengruppen haben Videos hochgeladen, in denen sie Stevens ihre Ehre erweisen und sich gegen Terrorismus und Al-Qaida aussprechen. Auch auf einer der Webseiten der Muslimbrüder findet sich eine solche Aussage, und auch Libyens Großmufti, Sheikh Sadeq al-Gheriani, hat den Angriff verurteilt.

Um zukünftige Tragödien zu verhindern, muss Libyen sich um zwei Themen kümmern. Zuerst muss das Land auf öffentliche Unterstützung bauen und den Entwaffnungs-, Demobilisierungs- und Neuintegrationsprozess fortführen, der unter dem Nationalen Übergangsrat begonnen, aber nie abgeschlossen wurde. Zweitens muss die Regierung ihre Kommunikationsstrategie verbessern.

Die Regierungen des Arabischen Frühlings haben zwar den unerträglichen Film verdammt, der den Propheten des Islam verhöhnt, aber sie hätten betonen sollen, dass keine offizielle oder inoffizielle Institution der USA mit der Produktion des Films etwas zu tun hatte.

Omar Ashour

© Project Syndicate 2012

Der Politikwissenschaftler Omar Ashour ist Direktor des Doktorandenprogramms für Nahoststudien am "Institut für arabische und islamische Studien" der Universität von Exeter und Gastprofessor am Brookings Doha Center.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de