Kampf um Geschichtsschreibung

Bei israelischen Historikern und Archäologen findet ein Richtungswechsel statt: Sie fordern, die bislang in der Wissenschaft als Stiefkind behandelten islamischen Epochen Palästinas stärker in den Blick zu nehmen. Von Joseph Croitoru

Von Joseph Croitoru

In Israel ist im Bereich der Archäologie eine geradezu sensationelle Entwicklung zu verzeichnen. Zum ersten Mal rücken in den Blick israelischer Geschichts- und Altertumsforscher die Überreste des einstigen Maghrebiner-Viertels in Ostjerusalem, das 1967 von den Israelis mutwillig zerstört wurde, um vor der Klagemauer mehr Platz zu schaffen.

Der sich hier abzeichnende Kurswechsel, an dem der Jerusalemer Mediävist Benjamin Z. Kedar maßgeblich teilhat, lässt sich am Fall der einst im Maghrebiner-Viertel befindlichen Al-Madrasa Al-Afdhaliya anschaulich illustrieren. Von Sultan Saladins ältestem Sohn Al-Afdhal Ende des 12. Jahrhunderts unweit der Klagemauer erbaut, überdauerte die kleine Koranschule die Jahrhunderte, bis sie am Ende des Sechs-Tage-Kriegs den israelischen Bulldozern zum Opfer fiel.

Auf die Madrasa war Benjamin Z. Kedar 2009 bei Recherchen im Rahmen eines gemeinsamen israelisch-palästinensisch-dominikanischen Forschungsprojekts über den Tempelberg aufmerksam geworden. Ihren genauen Standort gelang es allerdings erst mit Hilfe eines alten Luftbilds auszumachen, das 1931 von einem deutschen Zeppelin aus gemacht worden war. Als Kedar anhand dieser Luftaufnahme in Jerusalem mit der Suche vor Ort begann, erwartete ihn jedoch eine bittere Enttäuschung: Israelische Archäologen, die seit einigen Jahren westlich der Klagemauer graben, hatten gerade erst zwei Drittel der Überreste dieses Baus entfernt, um eine tiefere Schicht aus römischer Zeit freizulegen. Gestützt auf die Grabungsdokumentation und einige aufbewahrte Funde rekonstruierten Kedar und seine Kollegen die Geschichte des Baus für die Zeitschrift "Revue Biblique" (2/2012).

Provokation für die Klagemauerstiftung

Klagemauer und Felsendom; Foto: Jens-Ulrich Koch/dapd
Umstrittenes Vorhaben: "Das östliche Drittel der zerstörten und verschütteten [Madrasa Al-Afdhaliya] konnten Kedar und seine Kollegen nicht näher untersuchen, und daran wird sich wohl auch nichts ändern. Denn dort, dem westlichen Teil des Platzes vor der Klagemauer, soll ein großes Besucherzentrum errichtet werden."

​​Die zwischen 1193 und 1196 erbaute Madrasa bestand ursprünglich aus einem etwa 12 Meter langen und 6 Meter breiten Rechteckbau mit einer durchfensterten Kuppel, den zwei kreuzüberwölbte Nebenräume flankierten. Die Archäologen entdeckten in der westlichen Nebenkammer auch ein Grab mit den sterblichen Überresten eines zum Todeszeitpunkt etwa 30 Jahre alten Mannes. Bei diesem handelt es sich vermutlich um Scheich Id, einem einstigen Lehrer der Anstalt. Er soll spätestens in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gestorben sein, seitdem war die Madrasa auch mit seinem Namen verknüpft.

Das östliche Drittel der zerstörten und verschütteten Anlage konnten Kedar und seine Kollegen nicht näher untersuchen, und daran wird sich wohl auch nichts ändern. Denn dort, dem westlichen Teil des Platzes vor der Klagemauer, soll ein großes Besucherzentrum errichtet werden. Das Vorhaben ist äußerst umstritten. Die Gegner argumentieren, dass an einem solchen, in archäologischer wie religiöser Hinsicht sensiblen Ort eine Serviceeinrichtung völlig fehl am Platz sei.

Auch den Kompromissvorschlag der Planer, zumindest einen Teil der dort bereits freigelegten Überreste aus römischer Zeit als archäologische Schau in den künftigen Gebäudekomplex zu integrieren, lehnen sie ab und fordern die Erhaltung der gesamten Grabungsstätte. Kedar selbst besteht zudem auf die Freilegung der restlichen Ruinen der Madrasa und will sie unter Denkmalschutz stellen – für die israelische Klagemauerstiftung, die das Bauprojekt initiiert hat und es möglichst in einen historisch-jüdischen Kontext einbetten will, schlicht eine Provokation.

Wissenschaft mit politischen Zielen

Der Einsatz des Mediävisten für die Erhaltung der Madrasa-Überreste ist indes nur ein Teil seines Engagements für einen adäquaten Umgang mit dem islamischen Erbe Palästinas. Schon als Vorsitzender des wissenschaftlichen Rats der israelischen Altertumsbehörde war Kedar in den Jahren 1999 bis 2011 bemüht, mit ihr assoziierte israelische Archäologen für die verschiedenen islamischen Epochen des Landes zu sensibilisieren.

Unter diesen herrsche immer noch Unkenntnis, klagt er auch heute, weil die meisten Archäologen nach wie vor auf frühere Epochen spezialisiert seien. Diese Fokussierung führe dazu, dass die Bedeutung von Funden aus der islamischen Ära Palästinas nicht immer erkannt werde. Eine Verbesserung der Lage verspricht sich der 1938 im tschechoslowakischen Nitra geborene Historiker Kedar von einer zwar kleinen, mittlerweile aber wachsenden Gruppe jüngerer israelischer Archäologen und Historiker. Sie sind fest entschlossen, sich der bislang eher als Stiefkind behandelten islamischen Archäologie Palästinas weit intensiver zuzuwenden als bislang.

Ausgrabung einer jüdischen Synagoge aus der zweiten Tempelperiode (50 v. Chr. bis 100 n. Chr.) in Migdal am See Genezareth; Foto: David Silverman/Getty Images
Stiefmütterliche Behandlung der islamischen Epoche: "Es ist die Kontinuität der jüdischen Besiedlung des Landes, die in der zionistischen Geschichtsschreibung seit eh und je hervorgehoben wird. Damit wird – neben der Berufung auf die Bibel – der nationale Anspruch auf Eretz Israel untermauert; die islamische Epoche wird von konservativen zionistischen Historikern hingegen lediglich als Fremdkörper betrachtet", schreibt Croitoru

​​Wichtige Impulse gehen hier von Katia Cytryn-Silverman aus, einer jungen Expertin aus Jerusalem. 2011 hat sie mit ähnlich interessierten israelischen Kollegen verschiedener Disziplinen das Forschungsprojekt "The Formation of Muslim Society in Palestine-Eretz Israel" ins Leben gerufen. Ihr Credo: "Wir müssen auf die longue durée von beinahe 900 Jahren blicken, von den Anfängen der islamischen Herrschaft bis zum Ende der Mamelucken-Ära" – für israelische Verhältnisse geradezu revolutionär. Denn es ist vielmehr die Kontinuität der jüdischen Besiedlung des Landes, die in der zionistischen Geschichtsschreibung seit eh und je hervorgehoben wird. Damit wird – neben der Berufung auf die Bibel – der nationale Anspruch auf Eretz Israel untermauert; die islamische Epoche wird von konservativen zionistischen Historikern hingegen lediglich als Fremdkörper betrachtet.

Umayyaden-Moschee in Tiberias

Doch Katia Cytryn-Silverman und ihre Mitstreiter sehen das anders. Auf der Website ihres Projekts betonen sie, dass die Bevölkerung Palästinas ab dem 7. Jahrhundert einen tiefgreifenden demographischen wie soziokulturellen Transformationsprozess durchlief, in dessen Verlauf die Landesbewohner wie ihre gesamte Lebenswelt eine umfassende Islamisierung erfuhren. Deren zahlreiche Facetten, so das Plädoyer der Wissenschaftler, müssten ebenso erforscht werden wie Bildung und Zerfall der verschiedenen in Palästina aufeinander folgenden islamischen Staatsgebilde. Gerade in einer Zeit, wo in der israelischen Öffentlichkeit die Sorge angesichts der Wahlsiege islamistischer Parteien in den Ländern des arabischen Frühlings wächst, ist der Ansatz dieser Forscher besonders mutig.

Welch wertvollen Erkenntnisgewinn er mit sich bringen kann, zeigen eindrücklich die Grabungen, die Katia Cytryn-Silverman in der Stadt Tiberias am See Genezareth durchführt. Mit ihrem für Islamisches geschärften Blick konnte sie nachweisen, dass die Überreste eines dort freigelegten basilikaähnlichen Baus, den man lange auf die spätrömische Zeit datierte und zuletzt gar für den Sitz des hohen jüdischen Rats (Sanhedrin) hielt, in Wirklichkeit zu einer monumentalen Moschee gehörten. Sie war bereits früh, vermutlich um das Jahr 730, unter dem zehnten umayyadischen Kalifen Hischam Ibn Abd al-Malik erbaut worden. Nicht zuletzt durch diesen Nachweis erfährt die Geschichte Tiberias’ eine gründliche Revision.

Denn nun steht endgültig fest, dass es schon im achten Jahrhundert und über längere Zeit ein bedeutender Ort muslimischen Lebens, höchstwahrscheinlich eine Verwaltungsstadt, war. Diese Erkenntnis müssen zionistische Historiker, die das damalige Tiberias fast ausschließlich mit einer florierenden jüdischen Gemeinde assoziieren, erst noch in ihr Geschichtsbild integrieren.

Joseph Croitoru

© Qantara.de 2013

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de