''Wir gehören kulturell und mental zum Westen''

Wachwechsel in Sarajevo: Großmufti Mustafa Cerić, seit 1993 die beherrschende Figur des bosnischen Islam, tritt ab. Gemeinde und Moscheen sind längst wieder aufgebaut. Doch an wen wenden sich Bosniens Muslime in diesen Zeiten des Wandels? Charlotte Wiedemann sprach darüber mit Ahmet Alibašić, Dozent an der Fakultät für Islamische Studien in Sarajevo.

Von Charlotte Wiedemann

In welche Richtung schauen die muslimischen Intellektuellen Ihrer Generation?

Ahmet Alibašić: Wir schauen nicht in eine bestimmte Richtung. Da wir mehrere Jahrzehnte von der muslimischen Welt abgeschnitten waren, während des Königreichs von Jugoslawien und während der kommunistischen Periode, haben wir gelernt, selbstständig zu sein. Wir haben unser eigenes Bildungssystem entwickelt und ein gewisses islamisches Wissen produziert. Wir waren gezwungen, uns auf uns selbst zu stützen; wir sind an Unabhängigkeit gewöhnt. Und wir sind sehr pluralistisch.

Die Dozenten dieser Fakultät kommen von allen möglichen Universitäten: Chicago, Marokko, Ägypten, Syrien, Saudi-Arabien, Belgrad, Zagreb, Türkei, Pristina, Indien. Eine solche Vielfalt finden Sie an keiner anderen Universität der muslimischen Welt. Wir haben hier Modernisten, Traditionelle, Reformisten.

Und wo schauen Modernisten wie Sie hin?

Alibašić: Die bosnischen Modernisten schauen mehr auf muslimische Gelehrte, die an westlichen Universitäten lehren oder früher gelehrt haben, also zum Beispiel Fazlur Rahman, Abdolkarim Sorush oder Nasr Hamid Abu Zaid.

Sarajevo wirkt wie ein Marktplatz für alle möglichen muslimischen Strömungen. Sie haben gerade eine Bibliographie erstellt von allen Werken, die ins Bosnische übersetzt wurden. Wer bezahlt das alles?

Alibašić: Vieles ist gesponsert. Man bekommt hier unglaublich viel kostenlos. Die Sufi- Bruderschaften werben für ihre Scheichs; die Saudis, die Kuwaitis, die Liberalen, die Feministinnen – alle bezahlen selbst für ihre Schriften. Die iranische Botschaft verteilt Khomeini, die Türken Nursi und Fethullah Gülen. Und dann gibt es noch die kommerziell übersetzte Literatur von kleinen unabhängigen Verlagen.

Was macht Bosnien so attraktiv als Marktplatz? Hier ist doch nicht Syrien, Bosnien hat keine strategische Bedeutung.

Alibašić: Wir haben keine strategische, aber symbolische Bedeutung. Sarajevo – das hat für viele Menschen einen ganz bestimmten Klang, wegen der Tragödie und des Kampfes hier. Vier Jahre lang war Sarajevo in den Weltnachrichten. Für religiöse Führer ist es wichtig, ein Foto zu haben, das zeigt: Sie haben etwas getan in Sarajevo.

Ist das eher eine Gefahr oder eine Chance?

Alibašić: Ich sehe es als Chance, als Herausforderung. Ich neige nicht zur Panik. Natürlich birgt es auch Bedrohungen, derart mit der ganzen muslimischen Welt verbunden zu sein, aber es ist besser, als isoliert zu sein und vergessen. Wir gehen damit bisher ganz gut um. Keine der internationalen Bewegungen hat hier wirklich Erfolg gehabt. Ganz einfach, weil das hier kein leerer Platz ist.

Hussein Kavazovic (links) und Mustafa Ceric; Foto: DW
Keine Richtungsentscheidung, aber eine Zäsur: Muslimische Würdenträger in Bosnien wählten Hussein Kavazovic zum Nachfolger des früheren Großmuftis Mustafa Ceric, der das Amt seit 19 Jahren bekleidete.

​​Wer hierhin kommt, trifft auf eine muslimische Hierarchie, die nicht einfach als käuflich oder als Teil der Regierung denunziert werden kann. Es ist eine Gemeinde mit Tradition und mit Wahlen. Früher oder später müssen sich all diese Bewegungen von außen damit arrangieren, dass der Mainstream bei der Islamischen Gemeinde bleibt. Das kann vier, fünf Jahre dauern, aber dann merken sie es.

Nicht alle sehen das so gelassen. Es gibt radikale Strömungen, die sogar die Gemeinde für "ungläubig" erklären, weil sie zu den Wahlen im säkularen Staat aufruft.

Alibašić: Ja, aber die schlimmste Zeit liegt diesbezüglich hinter uns. Während des Kriegs und in der Zeit danach gab es eine substantielle Gefahr für den bosnischen Islam. Die Salafisten waren damals sehr ehrgeizig. Diese kritische Phase liegt jetzt hinter uns.

Die Gemeinde kontrolliert die 1.400 Imame in Bosnien-Herzegowina, und auch die 900 muslimischen Religionslehrer, die vom Staat bezahlt werden, müssen von der Gemeinde bestätigt werden. Wahrt sie damit ein absolutes religiöses Monopol?

Alibašić: Die Salafisten bleiben eine Herausforderung, aber auch Sufis und Schiiten machen uns Sorgen. Wir haben Probleme mit Sufis, wenn sie nur auf ihre Scheichs hören und die Autorität der Gemeinde nicht akzeptieren. Ein Imam darf die Moschee nicht zu einem privaten Quartier seiner Bruderschaft machen. Deswegen haben sich bereits einige Basisgemeinden gespalten. Die Moschee in Sarajevo, wo der Großmufti sein Büro hat, wurde lange von einer Sufi-Gruppe beherrscht, Cerić konnte die Moschee jahrelang nicht betreten! Der Mufti von Sarajevo und andere wurden dort sogar verprügelt.

Verprügelt? Von Sufis?

Alibašić: In der Tat. Hier und da gibt es auch Moscheen, die sich aus anderen Gründen der Kontrolle der Gemeinde entziehen. In West-Bosnien gibt es Streit um einen alten Imam, gegen dessen Ablösung sich die Gemeinde wehrt. Seit einigen Jahren weigert sich die Gemeinde, den neu eingesetzten Imam anzuerkennen.

Studentinnen einer Madressah in Sarajevo; Foto: Charlotte Wiedemann
Vielfältiger und unabhängiger Islam: Die Muslime machen etwa 40 Prozent der 3,8 Millionen Einwohner Bosniens und Herzegowinas aus. Sie gehören mehrheitlich einem gemäßigten Islam an, den das Osmanische Reich im 15. Jahrhundert auf den Balkan brachte.

​​Wir können nicht die Polizei holen, um den alten Imam rauszuwerfen. Wir können nur warten, bis er krank wird oder stirbt. Die Gemeinde ist nicht ein Unternehmen wie Coca-Cola. Manche Leute erwarten, dass die Gemeinde interne Probleme so hart löst wie ein Wirtschaftsunternehmen. Wir setzen eher darauf, dass die Zeit das Problem löst. Die Gemeinde muss auch mit denen leben, die sie nicht mögen, sie kann niemanden rauswerfen.

Wie verhält sich Ihre Fakultät gegenüber dem Wahabitentum?

Alibašić: Was viele Leute nicht verstehen: Jeder Dekan dieser Fakultät, selbst ein Modernist, ist gezwungen, ein Diplom aus Saudi-Arabien anzuerkennen, wenn es den formalen Anforderungen entspricht. Die Fakultät hat noch aus kommunistischer Zeit die Rolle, die Abschlüsse von Auslands-Fakultäten zu überprüfen.

Wenn also ein Wahabit mit einem Diplom kommt, das von den Fächern und dem Umfang des Studiums her dem unseren entspricht, dann hat er ein Recht, in Bosnien zu arbeiten. Das ist islamischer Pluralismus. Natürlich kann dann eine Basisgemeinde sagen: Wir wollen diesen Typen bei uns nicht als Imam. Aber wir können ihm kein generelles Arbeitsverbot erteilen.

Auch der Iran scheint präsent in Bosnien. Was macht den Iran hier attraktiv?

Alibašić: Das ist vor allem der Schiismus. Er ist sehr gefühlbetont und voller Opfergeschichten – dafür haben die Bosniaken eine schwache Seite. Weil wir selbst viel gelitten haben und sensibel sind für Ungerechtigkeit. Einige Intellektuelle haben zum Syrienkonflikt zeitweilig eine iranisch beeinflusste Position vertreten. Jetzt distanzieren sie sich vermehrt davon.

Insgesamt sehe ich eher einen religiösen als einen politischen Einfluss. Politisch ist der Iran viel zu weit weg. Wir gehören eben kulturell und mental zum Westen. Das sehen Sie auch an folgendem: Von den hunderttausenden bosnischen Flüchtlingen im Ausland blieben nur wenige in Malaysia, der Türkei oder anderen muslimischen Ländern. Sie gingen lieber nach Amerika, Australien oder Deutschland. Sogar die bosnischen Salafisten operieren lieber von Wien aus als von Saudi-Arabien.

Interview: Charlotte Wiedemann

© Qantara.de 2012

Dr. Ahmet Alibašić, 41, Assistenz-Professor, studierte Politische Wissenschaft in Sarajevo, Islamwissenschaft in Kuala Lumpur und Arabisch in Riad. Er übersetzte den katholischen Islamwissenschaftler John Esposito ins Bosnische, gründete das unabhängige "Center for Advanced Studies" und ist Mitherausgeber des "Journal of Muslims in Europe". Progressive Bosniaken sähen ihn gern als einen Großmufti der Zukunft, aber Alibašić ist kein Mann des Apparats.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de