Teheraner Visionen und nukleare Realitäten

Das iranische Nuklearprogramm steht seit über einem Jahrzehnt im Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit. Von Anfang an ging es dabei jedoch um mehr, als nur um technische Details und die völkerrechtlichen Aspekte des Programms. Vielmehr spielten ideologische Positionen und geostrategische Interessen eine wichtige Rolle. Eine Analyse von Walter Posch.

Von Walter Posch

In Teheran, wo nach wie vor eine ideologisch motivierte Außenpolitik betrieben wird, geht man davon aus, dass über kurz oder lang alle pro-westlichen Regierungen in der Region stürzen werden, da nach Teheraner Ansicht der kulturelle Unterschied zwischen der Masse der Bevölkerung und den Eliten zu groß ist.

Diese Eliten werden mittel- und langfristig entweder durch Wahlen oder durch den Druck der Straße von der Macht verdrängt werden, daher also die positive Beurteilung des "Arabischen Frühlings" durch Revolutionsführer Chamenei.

Die pro-westlichen Eliten werden dann durch neue, weniger oder gar nicht verwestlichte Eliten ersetzt, die weniger geneigt sind, mit den USA zu kooperieren. Daraus folgt zwangsläufig das Ende der westlichen Hegemonie über die islamische Welt.

Das geistliche Oberhaupt des Irans, Ajatollah Ali Chamenei; Foto: AP
Stellte die arabischen Volksaufstände als Erben der iranischen Revolution von 1979 dar - Ali Chameinei, Revolutionsführer und geistliches Oberhaupt der Islamischen Republik.

​​Folgt man dieser Logik, dann sind der Abzug der USA aus der Region und das "Verschwinden des zionistischen Regimes", also Israels, nach dem Beispiel des Apartheidregimes in Südafrika, nur mehr eine Frage der Zeit. Am Ende dieses Prozesses steht dann eine friedliche "Süd-Süd-Integration" auf wirtschaftlichem, kulturellem, politischem und vielleicht sogar militärischem Gebiet, in der Iran eingedenk seiner Größe und Lage, eine zentrale Rolle spielen wird.

Bis es jedoch soweit ist, dass diese Vision Realität wird, muss Teheran seine eigene Rolle sowohl als Regionalmacht als auch als islamische Führungsmacht stärken. Allerdings gab es wenig womit Teheran seinen Führungsanspruch in der Region untermauern konnte: nach dem langen Krieg mit Irak (1980-88) war die Islamische Republik Iran wirtschaftlich und militärisch genauso erschöpft wie der irakische Erzfeind. Die Wiederaufnahme des Nuklearprogrammes war vor diesem Hintergrund das ideale Mittel, um den Führungsanspruch in der Region zu untermauern.

Zunächst ist ein Nuklearprogramm im Verhältnis billiger und überschaubarer als der Aufbau einer modernen, schlagkräftigen Armee mit Luftwaffe und Marine. Bis heute ist die iranische Armee zwar numerisch relativ stark, hat aber große Probleme in der Modernisierung ihrer Ausrüstung und weist vor allem auf den Gebieten der Flugabwehr, der Luftwaffe und der Marine erhebliche Mängel auf – ganz im Gegensatz zu seinen vom Westen mit modernster Wehrtechnologie hochgerüsteten arabischen Nachbarn.

Hohe Popularität des Nuklearprogramms

Gleichbedeutend wie die potentiellen militärischen Aspekte sind jedoch entwicklungspolitische Ziele: in der Islamischen Republik Iran gilt die Nukleartechnologie als Gradmesser für den technologischen Fortschritt schlechthin. In öffentlichen Erklärungen wird immer wieder stolz auf die Leistungen der eigenen Ingenieure verwiesen.

IAEA-Generaldirektor Amano; Foto: AP
Wachsender Druck auf den Iran: Der Direktor der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA, Yukiya Amano, forderte am 17.11. den Iran auf, unverzüglich zum Vorwurf eines geheimen Atomwaffenprogramms Stellung zu nehmen.

​​Wie wichtig dieser Aspekt ist, wird vor allem dann klar, wenn man sich die hohe Popularität des Nuklearprogramms in der Bevölkerung vor Augen führt. Auch wenn vieles auf staatliche Propaganda zurückzuführen ist, so kann man doch mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass die iranische Bevölkerung hinter dem – vermeintlich friedlichen – iranischen Nuklearprogramm steht. Mehr noch, es ist wohl das einzige Projekt, wo das Regime die Unterstützung weiter Teile der Gesellschaft genießt.

Gegen die entwicklungspolitischen Aspekte des iranischen Nuklearprogramms, also die Ausbildung eigener Ingenieure und den Aufbau der dazugehörigen technologischen und akademischen Infrastruktur wurde von westlicher Seite keine Einwände vorgebracht. Im Gegenteil, wie mehrere diplomatische Annäherungen (z.B. 2005 und 2009), vor allem aber das Angebot der E3+3 aus dem Jahre 2008, beweisen, wurde der Islamischen Republik das Recht auf eine friedliche Nutzung der Nukleartechnologie nicht nur nicht abgesprochen, sondern sogar explizit anerkannt.

Letzten Endes scheiterten die Beziehungen jedoch am gegenseitigen Mangel an Vertrauen, der sich in der Frage des "Rechts auf Urananreicherung" entzündete.

Eine Frage der nationalen Ehre

Das sogenannte "Recht auf Urananreicherung" bzw. auf den vollen Brennstoffzyklus wurde durch die Teheraner Propaganda zur Frage der nationalen Ehre hochstilisiert. Es ist im Atomwaffensperrvertrag allerdings nicht verbrieft. Gleichwohl leiten viele Staaten, vor allem in der Dritten Welt, diesen Anspruch aus dem Recht auf friedliche Nutzung der Atomkraft ab.

Das Problem besteht nun darin, dass die Urananreicherung jene Schlüsseltechnologie darstellt, durch die das technologische Tor zur Herstellung waffenfähigen Brennstoffs, also zu einem Atomwaffenprogramm geöffnet werden kann. Und damit kann die Islamische Republik ihren Führungsanspruch in der Region tatsächlich untermauern, und zwar auch ohne eine Nuklearwaffe zu bauen.

Denn ein nuklearwaffenfähiger Iran müsste in der Region als de facto Nuklearmacht akzeptiert und somit als die dominierende Regionalmacht anerkannt werden. Das hat für die Staaten der Region verschiedene Konsequenzen: zunächst würde dies einen schweren Rückschlag für Saudi-Arabien bedeuten, das nun eindeutig ins Hintertreffen geriet. Außerdem würden die kleinen Anrainerstaaten des Golfes gezwungen sein, ihre Außen- und Sicherheitspolitik auf die "virtuelle" iranische Nuklearmacht hin auszurichten, was wiederum zulasten des saudischen Einflusses ginge.

Am meisten wäre jedoch Israel von der Atomwaffenfähigkeit Irans betroffen. Und zwar hauptsächlich deshalb, weil dadurch das israelische Nuklearmonopol in der Region gebrochen würde (die pakistanischen Atomwaffen sind auf Indien gerichtet, und werden deshalb nicht in die strategischen Gleichungen für den Nahen Osten aufgenommen).

Israel in Bedrängnis

Darüber hinaus gerät Israel jedoch auch von anderer Seite in Bedrängnis: einem diplomatischen Vorstoß Ägyptens folgend haben fast alle Staaten der Region den Atomwaffensperrvertrag und weitere einschlägige internationale Verträge zur Beschränkung von Massenvernichtungswaffen unterzeichnet. Der diplomatische Druck auf Israel es ihnen gleichzutun, ist also sehr hoch.

Israels Ministerpräsident Netanjahu; Foto: dpa
Israels Ministerpräsident Netanjahu: "Ein nuklearer Iran stellt eine Bedrohung für den Nahen Osten und die ganze Welt dar, und natürlich stellt er auch eine direkte Bedrohung für uns dar."

​​Darüber hinaus fordert die internationale Gemeinschaft die Errichtung einer Zone ohne Massenvernichtungswaffen für den Nahen Osten – sollte diese jemals realisiert werden, würde Israel zwar die technischen Möglichkeiten zur Produktion von Atomwaffen behalten, seine existierenden Atomwaffen müsste es jedoch aufgeben – Israel würde also nuklear entwaffnet werden, während der Iran seine Atomwaffenfähigkeit behielt. Dieses Szenario scheint zurzeit unwahrscheinlich, ist aber mittel- und langfristig durchaus möglich und wird immer wieder als politische Forderung in der UNO erhoben.

Es verwundert also nicht, dass die Israelis die schärfste Kritik am iranischen Nuklearprogramm üben. Darüber hinaus hat die aggressive iranische Rhetorik (Leugnung des Holocaust, Rede von Vernichtung Israels) die israelische Bevölkerung davon überzeugt, dass die Teheraner Islamisten die Vernichtung Israels aktiv betreiben, wodurch der öffentliche Druck auf die israelische Regierung Teheran gegenüber Härte zu zeigen, erhöht wurde.

Totaler Vertrauensverlust

Teheran wiederum steht vor einer doppelten Herausforderung: einerseits will es eine militärische Konfrontation unbedingt vermeiden und agiert daher im Rahmen des Atomwaffensperrvertrags und anderer internationaler Vereinbarungen. So kooperierte Iran mit der in Wien ansässigen Atomenergiebehörde und verhandelte mit den E3/3. Andererseits muss das islamische Regime die technische Entwicklung seines Programms vorantreiben, wenn es seinen Machtanspruch in der Region untermauern will.

Dieser Widerspruch wird an einem wichtigen Beispiel besonders deutlich: Iran hat zwar das Zusatzprotokoll zum Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet, setzt es aber nicht um. Das Resultat ist ein totaler Vertrauensverlust zwischen Iran und der internationalen Gemeinschaft vertreten durch die E3/3.

Nach dem Scheitern der letzten Verhandlungsrunde im Januar 2010 wurde die UN-Resolution 1929 (Juni 2010) beschlossen, die weitreichende Sanktionen für Iran vorsieht. Spätestens seit diesem Zeitpunkt herrscht eine neue völkerrechtliche Realität, die Teheran entweder zu umgehen versucht: zum Beispiel durch den Versuchs mithilfe Brasiliens und der Türkei einen Sonderregelung zu erwirken. Oder aber ganz ignorieren will, indem es versucht auf den status quo ante zurückzukehren.

Die Zunahme der Spannungen in den letzten Monaten sind vor dem Hintergrund dieses Vertrauensverlusts zu sehen, der letzten Endes darin seine Ursache hat, dass Teheran seinen ideologischen Visionen für die Region höhere Bedeutung beimisst als der nuklearen Realität.

Walter Posch

© Qantara.de 2011

Walter Posch ist Iranist und forscht bei der Berliner SWP zu Transformationsprozessen bei den iranischen Neofundamentalisten.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de