Verschärftes Abtreibungsgesetz als Eingriff in die Privatsphäre

Nachdem Ministerpräsident Erdoğan im Mai erklärt hatte, Abtreibung sei Mord und müsse auch so behandelt werden, kündigte die türkische Regierung flugs an, das Recht auf Abtreibung einzuschränken. Doch inzwischen sind die Pläne wieder vom Tisch, nachdem es zahlreiche Proteste gegeben hatte. Darüber hat sich Fatma Kayabal mit der Frauenrechtsaktivistin Lermioğlu Yılmaz unterhalten.

Von Fatma Kayabal

Die türkische Regierung hielt die Diskussion um die neue Abtreibungsregelung fast einen Monat lang am Laufen. Wie haben Sie die Debatte in der Türkei erlebt?

Selen Lermioğlu Yılmaz: Wir beobachten die Abtreibungsdebatte bereits seit einiger Zeit. Die aktuelle Kontroverse aber hat es nur noch einmal deutlicher gemacht: Die Regierung tut alles, um das Privatleben der Menschen auf ein Minimum zu reduzieren. Der Prozess, der zu diesem Ziel führen soll, wurde nun jedoch beschleunigt. Der Versuch, die Zahl der Abtreibungen zu beschränken, muss im Kontext ganz ähnlicher Maßnahmen gesehen werden: der Druck der Regierung, als Frau mindestens drei Kinder zu gebären, Einschränkungen von Kaiserschnitt-Geburten, das Urteil des Obersten Gerichtshofes, in dem analer und oraler Sex als unnatürlich bezeichnet werden, Einschränkungen beim Zugang zum Internet usw…

All dies spiegelt ein "Social Engineering"-Projekt wider, das direkt auf das Privatleben der Menschen abzielt. Als dann aber auch noch die Diskussion um die Abtreibungen einsetzte, erkannten viele Menschen – darunter auch solche, die sich gegen Abtreibungen wenden –, dass es hierbei im Grunde darum ging, das Privatleben der Bürger einzuschränken. Viele Menschen erkannten plötzlich, dass diese Form des "Social Engineering" etwas ist, von dem jeder einzelne an einem bestimmten Punkt betroffen sein kann. Das war die erste Lektion.

Selen Lermioğlu Yılmaz in ihrem Büro in Istanbul; Foto: Fatma Kayabal
Selen Lermioğlu Yılmaz: "Die Regierung tut alles, um das Privatleben der Menschen auf ein Minimum zu reduzieren"

​​Dann mussten wir feststellen, dass die Frauenbewegung in der Türkei derzeit eine immer stärkere Auffächerung erlebt. Natürlich müssen wir uns nicht in allen Punkt einig sein, doch ist solidarisches Handeln weiterhin zwingend. Im Verlauf der Abtreibungsdebatte waren wir in der Lage, diese Einigkeit und Solidarität zu demonstrieren, auch wenn wir in einzelnen Punkten nicht einer Meinung waren. Gleichzeitig erkannten wir, wie wichtig es ist, selbst die Initiative zu ergreifen. Bis jetzt war es immer die Regierung, die etwas in die Wege leitete, wogegen wir uns dann auflehnten. Die Abtreibungsdebatte hat uns aber vor Augen geführt, dass wir selbst einen politischen Ansatz finden und eine eigene Agenda entwickeln müssen.

Hat Sie die Solidarität der religiös orientierten Frauen positiv überrascht?

Yılmaz: Ja, gewiss. Diese Frauen waren in der Lage zu sagen: "Persönlich bin ich zwar gegen Abtreibungen, aber der Versuch, den Zugang dazu zu erschweren oder sie sogar ganz zu verbieten, ist eine Form der Unterdrückung und daher undemokratisch." Es stimmt, dass wir keine gemeinsamen Demonstrationen durchgeführt haben, doch gab es diese Solidaritätsbekundungen.

Seit der Legalisierung der Abtreibung gab es zu diesem Thema keine solch heftigen Diskussionen mehr. Es scheint eine Art "silent agreement" gegeben zu haben zwischen denen, die dafür und denen die dagegen waren. Auch wenn die Regierung ihr Vorhaben erst einmal wieder auf Eis gelegt hat, ist doch nun der Geist aus der Flasche – wie wird dies das Alltagsleben verändern?

Yılmaz: Die Regierung hat der Öffentlichkeit zu verstehen gegeben, dass "Abtreibung Mord" sei und dass das, was sie nun dagegen unternehmen wollten, richtig sei. Damit aber betreibt sie wie gesagt nichts anderes als "Social Engineering". Ganz ähnlich war die Haltung der Regierung, als sie versuchte, Ehebruch zu einer strafbaren Handlung zu erklären. Doch auch dieses Vorhaben musste sie später wieder aufgeben.

Proteste gegen verschärftes Abtreibungsgesetz; Foto: dapd
Entschlossener Widerstand: Nach heftigen Protesten von türkischen Frauenverbänden, Kritik aus Europa und Einsprüchen aus den eigenen Reihen hatte die türkische Regierungspartei AKP ihre Pläne für eine Verschärfung des Abtreibungsgesetzes schließlich aufgegeben.

​​Doch die Botschaft ans Volk war unmissverständlich. Die Frauen dachten: "Ich habe keine drei Kinder, verhalte ich mich richtig?" Sie spüren den gesellschaftlichen Druck. Von nun an werden Frauen nicht mehr so offen mit ihrem Arzt über Abtreibung sprechen, was den Druck, der auf ihnen lastet, weiter erhöhen wird. Und auch, wenn es nun zu keinen rechtlich verbindlichen Gesetzen kommt, so werden die Diskussionen doch weiter geführt werden, und das nur noch in Schwarzweißklischees. Das erhöht langfristig die Spannungen in der Gesellschaft und erzeugt neuen Druck, unter dem die Frauen zu leiden haben werden.

Hinzu kommt, dass die Regierung, selbst wenn sie die Gesetze nicht ändert, den Alltag der Frauen beeinträchtigt. So wurde zum Beispiel die Zahl der Mutter-Kind-Zentren reduziert, wo Frauen zur Geburtskontrolle beraten wurden. Frauen war es dort möglich, offen über ihre privaten Probleme zu sprechen – und das mit Menschen, denen sie vertrauen konnten. Jetzt sind sie isoliert.

Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan hatte sogar erklärt, dass Abtreibungen und Kaiserschnitte Teile einer "geheimen Verschwörung" seien, um die türkische Bevölkerung kleiner werden zu lassen, die nach seiner Auffassung die "Keimzelle des wirtschaftlichen Erfolgs der Türkei" sei. Was halten sie davon?

Yılmaz: Wir glauben, dass einige Leute Erdoğan Berichte zukommen lassen, laut denen das Durchschnittsalter der Bevölkerung steige, was angeblich dazu führe, dass unsere sozialen Sicherungssysteme irgendwann versagen werden. Wir wissen aber nicht, aus welcher Quelle diese Informationen stammen und worauf sie sich stützen, denn wir kennen kein anderes Land, dass das Problem seiner alternden Bevölkerung dadurch gelöst hätte, Frauen von der Berufstätigkeit fernzuhalten und dazu zu zwingen, mindestens drei Kinder zur Welt zu bringen.

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan; Foto: Reuters
Staatliche Bevormundung und Intervention in das Privatleben: Ministerpräsident Erdoğan hatte Abtreibungen unlängst mit einem Massaker an Zivilisten verglichen und seiner Regierung aufgetragen, einen Gesetzentwurf zur Verschärfung der bestehenden Abtreibungsregeln auszuarbeiten.

​​Nur 28 Prozent der türkischen Frauen sind berufstätig. Zuwanderung könnte das Problem lösen, so dass eigentlich nur eine Erklärung bleibt – und zwar eine nationalistische: das kurdisch-türkische Bevölkerungsverhältnis.

Es wird zwar niemals offen ausgesprochen, doch es gibt die Theorie, dass die Geburtenrate in den Kurdengebieten angeblich viel höher liege als in der restlichen Türkei. Ist das der Grund, weshalb die Regierung derzeit so bemüht ist, das Bevölkerungswachstum anzukurbeln?

Yılmaz: Es gibt solche Deutungen und Interpretationen. Vielleicht ist das tatsächlich die Botschaft, die die AKP-Regierung vermitteln möchte. Oder es geht ihr darum, jedem Bürger die religiöse und moralische Weltsicht aufoktroyieren zu wollen. Denn, seien wir ehrlich: das ökonomische Erklärungsmodell ist einfach nicht realistisch.

Was halten Sie von den gegenwärtigen Abtreibungsregelungen?

Yılmaz: Zunächst einmal ist darüber zu sagen, dass eine Abtreibung die Einwilligung des Ehemannes erfordert, was das Leben der Frau unter Umständen gefährden kann. Es kann sich zum Beispiel um eine Vergewaltigung in der Familie handeln, vielleicht ist der Ehemann nicht der Vater des Kindes. Die Begrenzung für einen Abbruch liegt bei zehn Wochen, wir fordern dagegen eine Ausweitung auf mindestens zwölf Wochen.

Mithilfe eines neuen Überwachungssystems sollen Frauen künftig auch noch von dem Moment an, in dem sie ihren Schwangerschaftstest machen und dieser positiv ausfällt, kontrolliert werden. Schon dies erzeugt ungeheuren Druck auf die Frauen, was inakzeptabel ist. Und es ist nur ein weiteres Beispiel dafür, wie die Regierung versucht, in das Privatleben der Menschen einzugreifen.

Interview: Fatma Kayabal

Übersetzung aus dem Englischen von Daniel Kiecol

© Qantara.de 2012

Selen Lermioğlu Yılmaz ist Koordinatorin der Frauenrechtsorganisation KADER ("Association for Support and Training of Women Candidates") in der Türkei.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de