''Ich spüre große Solidarität''

Die Soziologin und Autorin Pinar Selek spricht mit Hülya Köylü Schenk über ihre Verurteilung zu lebenslanger Haft in der Türkei und die Solidarität, die sie von Teilen der Gesellschaft erfährt.

Von Hülya Köylü Schenk

Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie von dem Urteil erfahren haben?

Pinar Selek: Einerseits fühle ich mich erschöpft. Aber andererseits bin ich immer noch sehr stark. Das war für mich wie eine Todesnachricht, als ob Sie einen Mensch verlieren würden, der Ihnen sehr nahe steht. Sie fragen sich, ist das wahr, ist das richtig?

Allerdings gibt es sehr viele Gründe, warum ich stark sein soll. An dem Verfahrenstag gab es eine Protestaktion an meiner Universität, eine Stunde lang hat keiner gearbeitet. In der ganzen Geschichte der Universität hat zum ersten Mal ein Rektor öffentlich Stellung bezogen und gesagt, "Niemand darf an Pinar herangehen, ohne über unsere Leichen zu gehen. Wer Pinar anfassen will, muss zuerst uns anfassen." Daher spüre ich eine große Solidarität um mich herum.

Ich wurde ausgewählt, damit mein Beispiel anderen Angst einjagt, die sich für ähnliche Dinge einsetzen wie ich. Sogar wenn man mich umbringen würde, wäre das zwar ein großer Schmerz, doch meine innere Stimme sagt: "Pinar, siehst du es nicht, wir haben diesen Kampf ohnehin gewonnen."

Wie geht der juristische Prozess weiter?

Selek: Meine Anwälte werden die Entscheidung beim Obersten Gerichtshof der Türkei anfechten. Danach wird dieser Prozess beginnen. Allerdings hatte der Oberste Gerichtshof alle anderen Freisprüche aus der Vergangenheit für nichtig erklärt.

Ein Junge, der seine Aussage unter Folter gemacht hat, sagte: "Ja, wir haben diesen Anschlag mit Pinar zusammen organisiert." Außer dieser Aussage, gibt es gar keinen Beweis. Und jetzt wurde ich zu lebenslanger Haft verurteilt. Sie haben mich für eine Mörderin gehalten, vielleicht glaubt keiner daran, aber es ist nicht einfach. Ich bekomme Morddrohungen per Post und E-Mail. Ich werde zur Zielscheibe. Sie begehen eigentlich Mord.

Demonstration von Unterstützern Pinar Seleks; Foto: B. Kilic/AFP/Getty Images
"Gerechtigkeit für Pinar Selek": Unterstützer Seleks demonstrieren am 24. Januar 2013 vor dem Istanbuler Gerichtshof gegen die Urteilsverkündung. Pinar Selek steht seit 1998, im Zuge ihrer Recherchearbeiten über die PKK, unter Terrorverdacht und wird der Beteiligung an einem Bombenanschlag in Istanbul 1998 bezichtigt. Nach dreifachem Freispruch (2002, 2006, 2011) folgte nun das Urteil zu lebenslanger Haft.

​​Warum wurden Sie ihrer Ansicht nach zur Zielscheibe?

Selek: Das wird seit langem diskutiert. Es könnte dafür viele Gründe geben. 1998 haben sie solch einen Anschlag und ein Opfer gebraucht. Sie hatten mich auch vorher aufgrund meiner Recherche über die kurdische Problematik festgenommen. Vielleicht wollten sie andeuten, "Wenn Sie mit Ihren Recherchen zu weit gehen, werden Sie was erleben."

Nachdem man mich aus der Haft entließ, wurden der Freispruch für nichtig erklärt, weil ich mich weiter an den öffentlichen Debatten beteiligt habe. Zuerst wurde ich ein "Strafziel", danach zu einem "Gerechtigkeitssymbol".

Haben Sie nun vor, politisches Asyl in Frankreich zu beantragen?

Selek: Ich werde immer wieder danach gefragt. Ich werde mit meinen Anwälten darüber reden, wie ich meine Sicherheit gewährleisten kann. Wenn ich das gewollt hätte, hätte ich es schon längst gemacht. Denn es gibt hier sehr viele Menschen, die mich unterstützen. Abgeordnete, Bürgermeister, alle… Sie sagen, wenn ich das wollte, könnte ich sogar morgen diesen Status erhalten. Aber darum geht es doch nicht. Ich weiß es momentan nicht, ich werde es mir überlegen.

Die Soziologin, Schriftstellerin und Feministin Pinar Selek wurde in der Türkei zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt. Dass die im Exil lebende Autorin wegen eines angeblichen Bombenanschlags schuldig gesprochen wurde, sorgt auch international für Empörung. Vor dem Urteil zu lebenlanger Haft war Selek bereits dreimal angeklagt und wieder freigesprochen worden.

Interview: Hülya Köylü Schenk

© Deutsche Welle 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de