''Syriens Opposition wurde zum Islamismus getrieben''

Laut einer aktuellen Studie der "International Crisis Group" ist der bewaffnete Widerstand gegen das Assad-Regime von militanten Islamisten unterwandert. Darüber sprach Kersten Knipp mit Peter Harling, Projekt-Direktor der "International Crisis Group" für Irak, Libanon und Syrien.

Von Kersten Knipp

Herr Harling, Sie sind Projekt-Direktor der "International Crisis Group" für Irak, Libanon und Syrien und haben jüngst ein Dokument mit dem Titel "Tentative Jihad: Syria's fundamentalist Opposition" veröffentlicht. Darin dokumentieren Sie die Präsenz unterschiedlichster islamistischer Gruppen in Syrien. Um wen handelt es sich dabei?

Peter Harling: Zum einen handelt es sich um Kräfte, die überwiegend aus einer konservativen Schicht der syrischen Gesellschaft stammen. Sie stellt den Großteil der heimischen Kämpfer. Der dort entstandene Widerstand ist eher informeller Art und organisiert sich überwiegend selbst. Die Anhänger neigen zu einem äußerst konservativen Weltbild. Und das hat zum Charakter der bewaffneten Oppositionen beigetragen.

Dann gibt es aber auch dezidiert islamistische Gruppen. Beispielsweise die "Jabhat al-Nusra li-Ahl al-Sham" ("Unterstützungsfront für das syrische Volk"). Dieser, steht in dem Papier, gehe es nicht nur um das Ende des Assad-Regimes. Vielmehr wolle sie auch eine militante salafistische Agenda durchsetzen. Außerdem wird sie für Selbstmordanschläge auch in überwiegend von Zivilisten bewohnten Gebieten verantwortlich gemacht. Die Gruppe, schreiben Sie, gleiche eher "Al-Qaida im Irak" als der originären syrischen Opposition. Wie stehen die syrischen Kämpfer zu dieser und anderen dschihadistisch ausgerichteten Gruppen?

Harling: Viele Kräfte sind eher säkular eingestellt. Sie haben an Religion kein allzu großes Interesse. Dennoch haben sie sich in Richtung der bewaffneten islamischen Kräfte bewegt, da sie von ausländischen islamischen Netzwerken Unterstützung erhalten. Diese kommt vor allem aus der Golfregion. Man muss darauf hinweisen, dass sich diese Leute im Kampf befinden. Sie brauchen Waffen und Munition.

Demonstration gegen das Assad-Regime im zentralsyrischen Homs; Foto: dapd
Was zunächst mit friedlichen Protesten im Zuge des Arabischen Frühlings begann, endete in einem blutigen Bürgerkrieg: Seit Beginn der Protestbewegung gegen das Assad-Regime vor 19 Monaten wurden inzwischen mehr als 35.000 Menschen getötet.

​​Das Geld dafür erhalten sie aus den Golfstaaten, vor allem von islamistischen Netzwerken, die sich um die Moscheen herum organisieren, aber auch von wohlhabenden syrischen Geschäftsleuten, die dort leben. All das formt die Identität der bewaffneten Opposition – und zwar auf eine Weise, die bisweilen höchst opportunistisch ist. Oft sind die Kämpfer nicht sonderlich überzeugt von dem, was sie an Äußerungen von sich geben. Doch auf diese Art kommen sie ihren Sponsoren entgegen.

Wie kam es dazu, dass sich die syrischen Gegner Assads auf die Islamisten einließen?

Harling: Ursprünglich war der syrische Aufstand vom Arabischen Frühling inspiriert. Durch große Demonstrationen wollte man den illegitimen Charakter des Regimes beweisen. Um die Demonstrationen zu unterbinden, reagierte Assad mit harter Repression. Angesichts dieser Umstände entschlossen sich die Aufständischen zur Selbstverteidigung. Sie sicherten einige Orte, an denen sie weiter demonstrieren konnten. Dazu schufen sie die "Freie Syrische Armee".

Aufständischer der FSA neben Patronengürtel; Foto: AP
Mit Koran und Kalaschnikow gegen das Assad-Regime: "Auf der Suche nach weiteren Optionen gerieten die Aufständischen in immer größere Nähe zu einem religiös-fundamentalistischen Weltbild und griffen auch verstärkt auf Gewalt zurück", meint Nahostexperte Harling.

​​Auf der Suche nach weiteren Optionen gerieten die Aufständischen in immer größere Nähe zu einem religiös-fundamentalistischen Weltbild. Ebenso griffen sie immer stärker auf Gewalt zurück. So setzten sie auch Bomben ein, die erhebliche Schäden unter Zivilisten anrichteten. Es gab Entführungen, auch kriminelles Verhalten, das mit dem Widerstand gegen das Regime gerechtfertigt wurde.

Also eine eher unfreiwillige Entwicklung hin zu religiöser Militanz?

Harling: Ja. Insgesamt wurde die Entwicklung der Opposition stark von der Art und Weise beeinflusst, wie das Regime auf die anfänglichen Proteste reagierte. Diese Entwicklung wurde dann ein Selbstläufer. Doch je mehr die Opposition sich auf einen islamistischen Kurs einließ, desto weniger Menschen waren bereit, sie zu unterstützen. Allerdings beobachteten wir auch eine gegenteilige Entwicklung: Denn an manchen Orten waren die Syrer einer derart heftigen Gewalt durch das Regime ausgesetzt, dass sie jeden unterstützten, der es bekämpfte.

Heißt das auch, dass der Mangel an Unterstützung aus dem Westen die Syrer in Richtung Islamismus trieb?

Harling: Ja. Die Syrer gingen zunächst davon aus, dass die Internationale Gemeinschaft an einem bestimmten Punkt einschreiten würde. Sie nahmen an, dass man sie letztlich nicht allein lassen würde. Tatsächlich kamen aus der Internationalen Gemeinschaft ja auch zahlreiche Signale, die die bewaffneten Oppositionsgruppen dazu ermutigten, die Situation eskalieren zu lassen. Es gab zahlreiche Anzeichen für internationale Unterstützung.

Doch den Erklärungen folgten keine Taten. Was folgte, waren Sanktionen. Doch die treffen die Zivilisten härter als das Regime. Und wenn es praktische Unterstützung gab, dann verhalf sie den Gruppen nicht zu den Waffen, die sie brauchten, um den Kampf gegen das Militär aufzunehmen. Dennoch kamen von Seiten der Internationalen Gemeinschaft viele Zeichen, die die Rebellen ermutigten, keine politischen Zugeständnisse zu machen, die einen politischen Prozess hätten in Gang setzen können.

Und inzwischen hält die Präsenz dschihadistischer Gruppen die Internationale Gemeinschaft davon ab, die Aufständischen zu unterstützen.

Harling: Genau. So verweisen Russland, Irak und der Iran auf die dschihadistischen Kräfte, um ihre Position zu rechtfertigen. Aber diese Positionen gehen in eine Zeit zurück, in der es diese Dschihadisten in Syrien noch gar nicht gab. Doch auch im Westen tendiert man dazu, seine zögerliche Haltung mit dem Hinweis auf Gotteskämpfer zu rechtfertigen. In diesem Zusammenhang sagt man dann, Syrien sei ein komplizierter Fall, das Land liege in einer höchst unstabilen, empfindlichen Region. All das macht es sehr schwierig, jene geradezu instinktiv motivierte Intervention umzusetzen, die es in Libyen gab.

Was ließe sich derzeit politisch tun, um die Gewalt in Syrien zu beenden?

Harling: Derzeit sind Vermittlung, Dialog, Verhandlung unmöglich. Dafür ist der Hass zu groß, ist zuviel Blut vergossen worden. Es wird noch einige Zeit vergehen, bis die beiden Parteien sich an einen Tisch setzen werden. Damit das geschieht, müssen ihre jeweiligen ausländischen Verbündeten ihre Haltung ändern.

Peter Harling; Foto: International Crisis Group
Peter Harling ist Projekt-Direktor der "International Crisis Group" für Irak, Libanon und Syrien. Die International Crisis Group ist eine private und unabhängige Insitution zur Vermeidung und Lösung größerer gewalttätiger Konflikte.

​​Die bewaffnete Opposition ist sehr fragmentiert. Die einzelnen Gruppen bilden einerseits zwar eine Einheit. Andererseits stehen sie aber auch in Konkurrenz zueinander. Es wäre hilfreich, wenn die internationale Gemeinschaft die unterschiedlichen Gruppen der bewaffneten Opposition stärker koordinieren könnte. Dann ließe sich womöglich auch der Ressourcen-Zufluss zu ihnen kontrollieren. Doch inzwischen haben sich die bewaffneten Gruppen ganz unterschiedlichen Sponsoren zugewandt und verfolgen ganz unterschiedliche Programme. Und das geht zu großen Teilen auf die Spaltung innerhalb der Gruppe der internationalen Assad-Gegner zurück.

Könnten denn auch Assads Unterstützer zur Beendigung der Gewalt etwas beitragen?

Harling: Ja. Sie könnten helfen, die Kräfte des Regimes zu institutionalisieren und in einen offiziellen Rahmen einzubinden. Denn bislang hat es viele private Kämpfer rekrutiert, die das Sicherheitsgeschäft übernommen haben. Zu diesem Zweck haben diese Kämpfer völlig freie Hand. Darum legen sie das denkbar schlimmste Verhalten an den Tag. Sie haben Massaker begangen und wurden nicht zur Verantwortung gezogen. Hier könnten die Alliierten des Regimes erheblich größeren Druck ausüben. Das würde dazu beitragen, es zur Mäßigung zu zwingen.

Interview: Kersten Knipp

© Deutsche Welle 2012

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de