Über die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie

Der iranischstämmige Politikwissenschaftler Nader Hashemi ist der Ansicht, dass die jungen muslimischen Demokratien vor der großen Aufgabe stehen, die Scharia so anzupassen, dass sie mit zeitgemäßen demokratischen Werten und internationalen Rechtsstandards vereinbar ist. Lewis Gropp hat sich mit ihm unterhalten.

Von Lewis Gropp

In Ihrem Buch "Islam, Secularism and Liberal Democracy" schreiben Sie über muslimische Gesellschaften und Demokratie. Was sagen Sie den Menschen, die grundsätzlich behaupten, dass Islam und Demokratie, aufgrund der dem Islam vermeintlich innewohnenden anti-demokratischen Natur, einander stets entgegengesetzt seien?

Nader Hashemi: Diesen Menschen sage ich zwei Dinge: Erstens, sie sollten die Geschichte studieren und zweitens, sie sollten ihre islamophoben Vorurteile überwinden. Vor noch gar nicht allzu langer Zeit wurden ähnliche Argumente hervorgebracht, dem Katholizismus wohne eine "anti-demokratische Natur" inne, und katholische Gesellschaften seien somit nicht demokratisierbar.

Diese Argumente sind fadenscheinig, denn sie basieren auf der ungeprüften Annahme, dass Religion, in diesem Fall der Islam, versteinert und nicht evolutionären Veränderungen und Entwicklungen unterworfen sei. Doch dabei wird der wichtigste Aspekt ignoriert, nämlich der sich verändernde sozio-ökonomische und politische Kontext, welcher großen Einfluss darauf hat, wie sich der Islam in verschiedenen Regionen der Welt zu verschiedenen Zeiten manifestiert.

Örtakoy-Moschee und die Bosporus-Brücke in Istanbul; Foto: AP
Besonders bemerkenswert am Demokratiezuwachs in der Türkei ist die Tatsache, dass dieser Zuwachs das direkte Ergebnis der politischen Partizipation muslimischer Intellektueller und religiöser Parteien ist", sagt Nader Hashemi.

​​Ferner existiert der Islam nicht im abstrakten Sinne, sondern wird ständig neu interpretiert – und zwar von Muslimen, die in spezifischen historischen Verhältnissen leben. Der Islam existiert nicht in einem Vakuum. Deshalb lautet die richtige Frage nicht etwa, "was ist der Islam?", sondern "unter welchen sozialen Bedingungen lassen sich Islam und Demokratie miteinander vereinbaren?".

Wo hat der Islam beispielsweise bewiesen, dass er mit Demokratie vereinbar ist?

Hashemi: Laut aktuellen Studien, wie die des Freedom House, einer respektablen Nicht-Regierungsorganisation, welche demokratische Entwicklung auf der ganzen Welt erfasst, lebt über die Hälfte der weltweiten muslimischen Bevölkerung (ca. 800 Millionen) in Ländern, welche als "frei" oder "teilweise frei" eingestuft werden.

Indonesien beispielsweise, das Land mit der größten muslimischen Bevölkerung, erzielte hohe Bewertungen im Bereich der zivilen und politischen Rechte. Dies ist ein bemerkenswertes Ergebnis in einem Land, das noch vor einem Jahrzehnt einen demokratischen Wandel unterlaufen ist, und zwar nach Jahrzehnten autokratischer Herrschaft. Auch die Türkei erhielt von Freedom Hause sehr respektable Werte für die demokratische Entwicklung, obwohl es in den letzten Jahren einige Rückschritte durch die Politik der AKP gab.

Besonders bemerkenswert am Demokratiezuwachs in diesen beiden, mehrheitlich muslimischen Ländern ist die Tatsache, dass dieser Zuwachs das direkte Ergebnis der politischen Partizipation muslimischer Intellektueller und religiöser Parteien ist. Dies widerlegt sowohl die alten Modernisierungstheorie, als auch die Angst vor der Gefahr, die angeblich von einer Vermischung muslimischer Werten und Politik ausgeht.

Heutzutage ist die Behauptung, dass diese traditionellen muslimischen Werte veraltet seien und sich nicht in die moderne Gesellschaft einfügen könnten, noch weit verbreitet. Folgt man dieser Annahme, so ruht die einzige Hoffnung für eine Zuwendung der arabischen Welt zu Demokratie, Moderne und Fortschritt ausschließlich auf säkularen, pro-westlichen Parteien, Institutionen und Intellektuellen.

Doch die offensichtlichen Veränderungen im 21. Jahrhundert weisen auf eine andere Antwort hin.

Hashemi: Ich würde gerne auf den Fall des heutigen Iran hinweisen. Die führenden Politiker und Intellektuellen der "Grünen Bewegung" sind überwiegend religiöse, fromme und praktizierende Muslime und, nach europäischen Maßstäben, zudem sehr konservativ. Dennoch haben sie alle ihr Verständnis von Islam mit Säkularismus, Menschenrechten, Demokratie und Geschlechtergleichheit abgestimmt.

Ich denke, der Arabische Frühling wird diesen Trend bestätigen. Islamistische Parteien treten zu Wahlen an und bemühen sich, ihren ideologischen Hintergrund sowie ihre konservative politische Agenda mit den Anforderungen der modernen Gesellschaft in Einklang zu bringen. Die positive Rolle, welche "Ennahda" bisher in Tunesiens demokratischem Wandel gespielt hat, gibt definitiv Anlass zur Hoffnung, doch natürlich gibt es keine Garantien.

Was ist jedoch mit dem Gesetz der Scharia? Es gibt verschiedene Schulen, aber dafür werden keine festgesetzten Regeln aufgestellt. Das erscheint vollkommen willkürlich und darum auch ungerecht. Kann die Scharia denn mit Demokratie vereinbar sein?

Hashemi: Das ist genau der Grund, weswegen sie mit der Demokratie vereinbar ist; eben weil es verschiedene Schulen gibt, weil sie nicht schriftlich fixiert und somit frei wählbar ist. Sie unterliegt der Interpretation der Menschen.

Rachid Ghannouchi, Chef der tunesischen Regierungspartei Ennahda, Foto: AP/dapd
Neuorientierung der Islamisten? - "Wir glauben an die Verbindung eines moderaten Islams mit den Errungenschaften der Reform und der Moderne", erklärte vor einigen Monaten Rachid Ghannouchi, Chef der tunesischen Regierungspartei "Ennahda".

​​Allerdings muss man auch die Kehrseite zur Kenntnis nimmt: Die Scharia kann auch für zerstörerische und unmenschliche Absichten genutzt werden, wie man beispielsweise im heutigen Saudi-Arabien und Iran sieht. Ich möchte auf mehrere Dinge hinweisen:

Zunächst kann jedes Rechtssystem, ob basierend auf Religion oder säkularem Humanismus, missbrauch werden. Zudem ist die Scharia ein Teil der islamischen Tradition und kann nicht einfach "beiseite geredet" werden, weil ein paar Leute im Westen sie nicht mögen. Wie Karl Marx einst sagte: "Der Mensch schafft sich seine eigene Geschichte, aber nicht so, wie er sie will und auch nicht unter den Gegebenheiten, die er will. Er schafft sie unter den von der Geschichte vorgegebenen Gegebenheiten".

Darum muss auch jede muslimische Demokratie mit der großen Aufgabe kämpfen, die Scharia so anzupassen und zu verändern, dass sie mit zeitgemäßen demokratischen Werten und internationalen Rechtsstandards vereinbar ist.

Das Ziel jedes Rechtssystems ist Gleichheit und Gerechtigkeit für alle ihm unterworfenen Individuen. Unter dem Gesetz der Scharia jedoch werden alle Nicht-Muslime immer bestenfalls zweitklassige Bürger sein. Ist es wirklich besser, ein ungerechtes System zu einem weniger ungerechten System zu reformieren, anstatt ein System auszuarbeiten, welches Religion gegenüber neutral ist und unter welchem alle Menschen gleich behandelt werden? Die Scharia wird religiöse Minderheiten immer benachteiligen – also warum sollte man nicht gleich für eine Demokratie wie wir sie kennen eintreten?

Hashemi: Jedes moderne Justizsystem in der muslimischen Welt, das versucht, sich auf die Scharia zu beziehen, muss sich mit den Grundsätzen der Gleichheit für Nicht-Muslime und der Gerechtigkeit für religiöse Minderheiten beschäftigen. Man kann diese wichtigen ethischen Fragen nicht umgehen. Meiner Meinung nach muss man auch den Status der Frau im Rahmen der Scharia berücksichtigen.

Ayatollah Montazeri in Qom; Foto: dpa
Interpretation der Scharia im zeitgemäßen und demokratischen Kontext: der schiitische Geistliche Ayatollah Montazeri aus Qom.

​​Die Frage der Minderheitenrechte bezüglich der Scharia ist sehr problematisch. Doch wenn muslimische Gesellschaften demokratischer werden und sich der Debatte über dringliche moralische und ethische Fragen öffnen, werden sich diese Probleme lösen.

Die Beschlüsse und Interpretationen des islamischen Gesetzes des mittlerweile verstorbenen Ayatollahs Hossein Ali Montazeri über den Status der Minderheit Bahai im Iran geben mir beispielsweise Hoffnung, dass sich die Türen des Idschtihad öffnen werden.

Viele Kommentatoren argumentieren, dass die neuen Änderungen in der arabischen Welt positiv sind und den Geist der Demokratie und Menschenrechte tragen. Aber wie bewertet man die Gefahren, die dieser unberechenbaren Situation innewohnen?

Hashemi: Jede politische Veränderung birgt ein gewisses Risiko in sich. Die Proteste im September 2011 in Libyen, Tunesien und Ägypten, welche auch Angriffe auf die US-Botschaften einschlossen, erinnern uns daran, dass Übergänge zur Demokratie fragile Prozesse sind. Es gibt keine Garantie, dass die demokratischen Kräfte triumphieren werden. Das trifft vor allem auf Gesellschaften in Entwicklungsländern zu, welche für Jahrzehnte von autoritären Eliten regiert wurden.

Die Frage ist jedoch, was sind die Alternativen? Eine Beibehaltung der Regimes von Mubarak, Ben Ali und Assad? Diese Regimes waren unfähig, Reformen durchzuführen und deshalb ist ihr Niedergang ein Erfolg.

Hashemi: Es gibt einen Zusammenhang zwischen autoritären Regimes in der arabischen Welt, der Unterstützung, die ihnen vom Westen widerfahren ist und den politischen Auswirkungen, die diese Unterstützung für die Zukunft der Demokratie hat. Einfach dargestellt hat diese Unterstützung autoritärer Regime in der arabisch-islamischen Welt gewaltige politische Konsequenzen in Bezug auf die demokratische Zukunft in der Region. Jahrzehnte politischer Unterdrückung, besonders der säkularen Zivilgesellschaft, hat die politische Opposition im Nahen Osten in traditionelle Sektoren der Gesellschaft gezwungen, wie beispielsweise in die Moschee.

Die Religion hat indirekt von den autoritären Regierungen der post-kolonialen arabischen Staaten profitiert, zum Teil weil alle rivalisierenden säkularen politischen Organisationen zerschlagen wurden. Nehmen wir den Iran als Beispiel: Was dachte man käme nach den Jahrzehnten der politischen Tyrannei, welche jede progressive soziale Kraft dezimierte?

Die sozialen Bedingungen in den Jahrzehnten vor der Islamischen Revolution 1979, welche ein spezifisches Nebenprodukt der autoritären Modernisierungspolitik des durch den Westen gestützten Pahlawi-Regimes waren, erzeugte einen fruchtbaren Boden für den Aufstieg des islamischen Fundamentalismus. Die Politik des Schah-Regimes untergrub die Kräfte des demokratischen Säkularismus und Liberalismus und stärkte somit unabwendbar die des politischen Islams.

Nader Hashemi; Foto: Manjoo Hashemi
Nader Hashemi ist Professor der Josef Korbel School of International Politics in Denver (USA). Hashemi ist Autor des Buches "Islam, Secularism, and Liberal Democracy" (Oxford University Press) und Mitherausgeber von "The People Reloaded" (Melville House), einer Anthologie über die "Grüne Protestbewegung" im Iran.

​​Ein wichtiger Wendepunkt in der modernen Geschichte des Iran war dabei der 1953 vom CIA organisierte Putsch, welcher die Periode des demokratischen Säkularismus und der parlamentarischen Politik beendete, welche Iran zwischen 1941 und 1953 erlebt hatte. Mohammed Mossadegh, der charismatische und populäre iranische Premierminister, der bei diesem Putsch gestürzt wurde, war ein Liberaler, ein Demokrat, ein politischer Säkularist im besten Sinne des Begriffs und ein starker Unterstützer des internationalen Rechts. Auch war er ein praktizierender Muslim.

An seiner Stelle wurde damals der Schah inthronisiert, der während der 1960er und 1970er Jahre ebenso repressiv und korrupt war wie Hosni Mubarak oder Zine al Abedine Ben Ali während der 1990er und 2000er Jahre. Dies war ein katastrophales Ergebnis in Bezug auf die politische Entwicklung im Iran, welche den Aufstieg einer autoritären islamistischen Bewegung verursachte, die nach der Revolution die politische Macht ergriff.

Auf die gleiche Weise, wie im Iran die Kräfte des politischen Islams aus den Jahrzehnten politischen der autoritären Herrschaft entstanden, ist in Ägypten und Tunesien heute eine – wenn auch nicht identische –, so doch ähnliche Situation aufgetreten. Wenn man diesen Zustand anprangert, so ignoriert man die politischen Konsequenzen, welche die Unterstützung repressiver autoritärer Regime mit sich bringt. Man kann nicht die sozialen Bedingungen unterstützen, welche das Aufkommen eines politischen Islams auslösen und dann die Stärke und Beliebtheit dieser religiösen Bewegung nach der Revolution verurteilen.

Wenn man diesen alles umspannenden politischen Kontext in Betracht zieht, lässt sich das Aufkommen des politischen Islams sehr gut nachvollziehen, zum Teil auch als Folge der langjährigen Unterstützung, die der Westen den diktatorischen Regimes im Nahen Osten hat zukommen lassen.

Wenn heute antiliberale und antidemokratische Kräfte in Ägypten und Tunesien auf dem Vormarsch sein sollten, was ich nicht hoffe, dann muss der Westen seinen Teil der Verantwortung für diese Situation akzeptieren.

Interview: Lewis Gropp

© Qantara.de 2012

Übersetzt aus dem Englischen von Laura Overmeyer

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de