''Überfremdung ist ein Mythos'''

Die Angst vor Überfremdung hat in Europa Konjunktur. Der Westen werde überrannt von Muslimen, kritisieren Einwanderungsgegner. Wie falsch sie mit dieser Annahme liegen erklärt der britisch-kanadische Journalist Doug Saunders. Mit ihm hat sich Aygül Cizmecioglu unterhalten.

Von Aygül Cizmecioglu

Herr Saunders, Politiker wie der Deutsche Thilo Sarrazin oder der Niederländer Geert Wilders behaupten, dass der Westen von Muslimen überrollt wird – zumindest demografisch. Stimmt das?

Doug Saunders: Nein, die Fakten sprechen eindeutig dagegen. Ich habe selbst in vielen muslimischen Ländern wie dem Iran oder in Bangladesch gelebt und habe mit einem Team aus Wissenschaftlern und Demografen die Lebensumstände von Migranten untersucht.

Fakt ist, dass die Geburtenrate in diesen Ländern oft im EU-Durchschnitt liegt. Dazu kommt, dass Muslime in Europa und Nordamerika gar nicht die Mehrheit der Migranten stellen. Und sie bekommen keineswegs mehr Kinder. Das war vielleicht noch in der ersten Generation der Einwanderer der Fall. Aber schon in der zweiten und dritten Generation nimmt die Kinderzahl ab und die Familienmodelle ähneln dem gesellschaftlichen Durchschnitt.

Seit den Anschlägen vom 11. September dominiert in vielen Köpfen leider das Bild des gewaltbereiten Muslims mit einem Hang zum Extremismus…

Saunders: Ja, leider. Dabei haben wir viele Untersuchungen aus unterschiedlichen Quellen miteinander verglichen - von den Vereinten Nationen, über nationale Statistiken bis zu Geheimdienstpapieren. Sie alle kommen zum gleichen Schluss: Gläubige Muslime sind nicht anfälliger für terroristisches Gedankengut.

Buchcover Doug Saunders: Mythos Überfremdung im Blessing-Verlag
In seinem jüngst auch auf Deustch erschienenen Buch "Mythos Überfremdung" nimmt Doug Saunders die Thesen von einigen Einwanderungskritikern unter die Lupe und widerlegt sie Punkt für Punkt durch Fakten.

​​Vielmehr benutzen Extremisten ein religiöses Image, um ihre politischen Ziele durchzusetzen, ohne wirklich gläubig zu sein. Nach 9/11 hat die New Yorker Polizei Jahre lang die muslimischen Gemeinden der Stadt durchfilzt – vor allem die besonders religiösen. Es wurde nicht ein einziger Verdachtshinweis gefunden. Weil sie einfach an der falschen Stelle gesucht haben.

Was heißt das?

Saunders: Das heißt, dass fast alle bekannten muslimischen Terroristen aus der Mittelschicht stammen und nicht aus jenen armen Einwanderervierteln kommen, in denen man sie oft vermutet. Dabei ähneln sich Extremisten – egal welcher Couleur – in ihrer Radikalität und in ihren Denkmustern.

Nehmen wir etwa den norwegischen Amokläufer Anders Breivik. Der tötete 77 Menschen, weil er die schleichende Islamisierung der Gesellschaft aufhalten wollte. Gleichzeitig war er ein großer Bewunderer des muslimischen Terroristen Osama Bin Laden. Sie sehen, religiöse Überzeugungen spielen da wirklich keine Rolle.

Aber woher kommen dann diese Ängste?

Saunders: Sie sind tief in uns drin. Es ist die Angst vor dem Anderen, dem Unbekannten. Auch ich kann mich davon nicht frei machen. Das war übrigens auch der Grund, warum ich mich mit diesem Thema beschäftigt habe.

In meiner Nachbarschaft in London, bemerkte ich wie ein radikales Al-Qaida-Mitglied begann, die Moschee in meinem Kiez zu dominieren. 2005 wurde ein Freund von mir bei den Selbstmord-Anschlägen in der Londoner U-Bahn schwer verletzt. Und schon fängt man an, sich Fragen zu stellen. Ist meine westliche, liberale Welt durch den Islam bedroht?

Welche Faktoren erschweren, diese Vorurteile abzubauen?

Saunders: Wir reden immer von DEN Muslimen. Dabei gibt es diese homogene, einheitliche Gemeinschaft gar nicht. Die religiöse Bandbreite reicht von sehr liberalen Ansätzen wie bei den Aleviten bis zu den ultraorthodoxen Wahabiten.

Ein pakistanischer Einwanderer in London, der einst aus einem kleinen Dorf kam, hat nichts mit einem iranischen Einwanderer aus der Mittelschicht zu tun.

Das heißt, nicht die Religion ist entscheidend, sondern die soziale Klasse?

Saunders: Genau. Viele Untersuchungen zeigen, dass Einwanderer aus der gleichen Nachbarschaft ähnliche Integrationsprobleme haben, obwohl sie unterschiedlichen Religionen angehören.

Deutsch-türkische Schulklasse in Berlin-Kreuzberg; Foto: picture-alliance/dpa
Schwachstellen deutscher Integrationspolitik: "Die skandinavischen Länder begannen schon früh mit der Einbürgerung von Migranten. Deutschland war da leider zu langsam. Hier wurde 30 Jahre lang ignoriert, ein Einwanderungsland zu sein", moniert Saunders.

​​Sind überwiegend von Türken oder Arabern bewohnte Gebiete, wie es sie beispielsweise in Berlin gibt, ein Zeichen für eine "Parallelgesellschaft"?

Saunders: Keineswegs! Nehmen wir New York als historisches Beispiel. An der Lower East Side haben sich über Jahrzehnte Einwanderer aus unterschiedlichen Ländern mit unterschiedlichen ethnischen Backgrounds angesiedelt: Osteuropäische Juden, südeuropäische Katholiken, orthodoxe Griechen – sie alle hatten ihre eigenen Viertel. Auch sie wurden anfangs argwöhnisch beäugt. Aber heute gehören sie zu den erfolgreichsten Einwanderergruppen, obwohl sie immer noch in ihren Kiezen leben.

Wenn Sie die Einwanderungspolitik in Europa vergleichen, welche Unterschiede lassen sich feststellen?

Saunders: Skandinavische Länder wie Schweden oder Norwegen haben schon früh mit der Einbürgerung von Migranten begonnen, maßgeschneiderte Bildungsprogramme entwickelt. Deutschland war da leider zu langsam. Hier wurde 30 Jahre lang ignoriert, ein Einwanderungsland zu sein. Interessant ist dabei, dass Türken aus dem gleichen anatolischen Dorf, die einst nach Großbritannien auswanderten, sich viel schneller integrierten. Sie eröffneten früher kleine Geschäfte, kümmerten sich um die Bildung ihrer Kinder.

Also Integration durch Bildung und Wohlstand…

Saunders: Natürlich! Sobald sie Einwanderer nicht als normale Bürger einer Gesellschaft akzeptieren, ihnen den Bildungsweg oder den wirtschaftlichen Aufstieg erschweren, wird es gefährlich. Ausgrenzung verhindert Integration. Aber das hat nichts mit der Religion zu tun.

Interview: Aygül Cizmecioglu

© Qantara.de 2013

Doug Saunders, Jahrgang 1967, ist ein britisch-kanadischer Autor und Journalist. Für seine Reportagen und Kolumnen wurde er bislang vier Mal mit dem National Newspaper Award ausgezeichnet, dem kanadischen Pendant zum Pulitzer-Preis.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de