''Wir brauchen ein Gleichgewicht der politischen Kräfte''

Ein Jahr nach der Revolution zieht Maya Jribi, Vorsitzende der Demokratischen Fortschrittspartei (PDP), die Konsequenz aus der bitteren Niederlage bei den ersten freien Wahlen Tunesiens und kündigt den Zusammenschluss mit fünf weiteren Parteien der liberalen Mitte an. Mit ihr hat sich Sarah Mersch unterhalten.

Von Sarah Mersch

Ein Jahr nach der Revolution regiert in Tunesien eine Koalition dreier Parteien: Ennahda, Ettakatol und der Kongress für die Republik. Die PDP, die schon unter Ben Ali in der Opposition war, findet sich auch nach den ersten demokratischen Wahlen in der Opposition wieder.

Maya Jribi: Wir müssen es leider ganz klar sagen: Die PDP hat eine Niederlage erlitten – das hatten weder ihre Anhänger, noch die Öffentlichkeit oder gar die politische Klasse erwartet.

Worin sehen Sie die Ursachen für diese Wahlniederlage?

Jribi: Um wirklich dauerhaft mit den Bürgern in Kontakt zu sein, braucht man einen ganzen Parteiapparat, und den haben wir nicht, da wir unter der Diktatur unterdrückt und immer in der Opposition waren. Außerdem haben wir falsch kommuniziert. Wir konnten unsere Überzeugungen in Identitätsfragen und im sozialen und politischen Bereich nicht vermitteln. Wir haben jetzt unsere Fehler analysiert und sind nun dabei, uns neu auszurichten.

Warum hat sich die PDP erst jetzt zur Fusion mit den anderen Parteien entschlossen und nicht bereits vor den Wahlen?

Jribi: Das war ein politischer Wachstumsprozess, der stattfinden musste. Nach den Wahlen haben alle Parteien Bilanz gezogen und unsere wichtigste Schlussfolgerung ist, dass wir, um wirklich eine Republik in Tunesien aufzubauen, zusammenarbeiten müssen. Jedes republikanische System basiert darauf, dass es Machtwechsel gibt. Deshalb brauchen wir ein Gleichgewicht der politischen Kräfte. Wir sind daher dazu aufgerufen, eine Front zu bilden, die die Erwartungen weiter Teile der tunesischen Gesellschaft repräsentiert und ein Machtgleichgewicht garantiert.

Symbolbild Wahlen in Tunesien; Foto: DW
Politische Lehren aus der Wahlschlappe vom vergangenen Oktober: "Wir haben jetzt unsere Fehler analysiert und sind nun dabei, uns neu auszurichten", sagt Maya Jribi.

​​Die Parteien und ihre Mitglieder, mit denen wir uns jetzt zusammenschließen, stehen mir genauso nahe wie die Mitglieder der PDP. Ich bin davon überzeugt, dass dieser Zusammenschluss positiv ist. Er wird eine Lawine auslösen und dafür sorgen, dass sich nicht nur im politischen Bereich sondern auch in der Zivilgesellschaft viele kleine Gruppen zusammenschließen. Tunesien hat so viele Kompetenzen, und die Revolution macht es möglich, diese auch zu nutzen.

Kann der demokratische Übergang mit der amtierenden Koalitionsregierung aus Ennahdha, Ettakatol und dem Kongress für die Republik gelingen?

Jribi: Ich habe immer dafür gekämpft, den moderaten politischen Islam mit einzubeziehen. Ohne die moderaten Kräfte dieser Bewegung wird es in Tunesien keine wahre Demokratie geben. Dass nach einer Revolution alle Parteien, die sich an die demokratischen Spielregeln halten, auch an der demokratischen Transition mitwirken, haben wir immer gefordert.

Allerdings finde ich die jetzige Koalition nicht normal: Innerhalb dieser Troika gibt es Parteien, die eigentlich uns, den Kräften der Mitte, nahe stehen, vor allem was ihre gesellschaftlichen Positionen angeht, und die jetzt aus politischem Kalkül und Machtwillen eine Koalition mit Ennahda eingegangen sind. Das verurteile ich aus meiner persönlichen Überzeugung heraus, aber politisch gesehen ist es natürlich legitim.

Rachid Ghannouchi, Chef der islamischen Regierungspartei Ennahda in Tunis; Foto: dapd
Neue politische Machtkonzentration der gemäßigten Islamisten: Die "Ennahda" um Spitzenpolitiker Rachid Ghannouchi war im Oktober klar als stärkste Kraft aus den ersten freien Wahlen in Tunesien hervorgegangen und besetzt nun die Schlüsselministerien.

​​Allerdings ist die daraus resultierende Vormachtstellung Ennahdas bedenklich. Ein Beispiel ist die provisorische Regelung der staatlichen Machtverteilung, also quasi die Mini-Verfassung, die uns bis zur Verabschiedung der neuen Verfassung begleitet.

Sie soll die Gewaltenteilung sichern, doch Ennahda hat mit Unterstützung ihrer Koalitionspartner und der daraus resultierenden Mehrheit dafür gesorgt, dass die Macht beim Premierminister liegt. Vor dem 14. Januar lag die ganze Macht beim Präsidenten, jetzt liegt die ganze Macht beim Premierminister. Wir müssen daher auf dem Weg zur Demokratie noch einige Hindernisse überwinden.

Was sind die großen Herausforderungen, vor denen Tunesien jetzt steht?

Jribi: Das Jahr 2012 wird sehr schwierig werden. Ohne soziale Verbesserungen kann eine Revolution keinen Erfolg haben. Und die Tatsache, dass die Regierung in dieser Hinsicht viele Fehler begeht, dass die verschiedenen sozialen Gruppen sich nicht ernst genommen fühlen, dass ihre Forderungen nicht gehört werden, sorgt dafür, dass die Situation noch explosiver wird.

Außerdem haben die Parteien viel zu große Wahlversprechen gemacht. Die Bevölkerung hat auf ein Wunder gehofft, das es nicht gibt. Aber wir brauchen Stabilität, um Investoren anzuziehen und die Wirtschaft voranzubringen.

Doch solange das Land instabil ist, werden die Investoren nicht kommen. Der Tourismus läuft – vorsichtig ausgedrückt – nur schleppend wieder an. Zudem müssen viele Firmen wegen andauernder Streiks und Sit-Ins schließen. Die Regierung muss dringend reagieren, bevor die Situation explodiert, denn sonst steht bald die demokratische Entwicklung des Landes auf dem Spiel.

In Tunesien lässt sich eine zunehmende Spaltung zwischen traditionellen, religiösen sowie modernistischen Kräften beobachten. Wie schätzen sie die gegenwärtige Entwicklung ein?

 

Jribi: Wir sollten keine Panikmache betreiben. Die Revolution hat alle Kräfte befreit, darunter auch die radikalen. Ich glaube, dass eine überwiegende Mehrheit der Tunesier kulturell gesehen der Mitte der Gesellschaft angehört. Der Islam ist, und davon bin ich überzeugt, eine zentristische Religion, und Tunesien hat so viele reformistische, moderate kulturelle und politische Strömungen erlebt.

Ich denke daher, dass wir fest in dieser modernen, nach vorne gewandten, offenen und toleranten Tradition des Islams verankert sind. Ich und meine Parteien sehen uns dieser Strömung verpflichtet. Unter den Salafisten gibt es friedliche Strömungen und andere, die sich ins Privatleben der Bürger einmischen und die individuellen Freiheiten nicht respektieren. Wenn die Regierung vor diesen Extremisten nicht die Augen verschließt und die Zivilgesellschaft ihre Rolle einnehmen kann, dann wird diese Strömung klein bleiben und muss sich dem Recht beugen.

Interview: Sarah Mersch

© Qantara.de 2012

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de